Unscheinbare L 20 eroberte Herzen vieler Piloten
Große Dinge haben kleine Anfänge. Ohne echte Begeisterung bringt die Daimler-Motoren GmbH 1924 ein Sportflugzeug heraus – die L 20. Erst Hanns Klemm pusht den eleganten Tiefdecker und macht ihn zum Grundstein seines Böblinger Flugzeugbaus.
Für Höchstleistungen wurde die unscheinbare L 20 eher nicht konstruiert – und der 20 PS schwache Zweizylinder-Boxer F 7502, eine Auftragsarbeit des großen Ferdinand Porsche für Daimler, eigentlich auch nicht. Dennoch erobert sich dieses urdeutsche Sportflugzeug und sein berühmterer Nachfolger Klemm L 25 in den zwanziger und dreißiger Jahren hierzulande einen festen Platz auf den Flugfeldern und in den Herzen vieler Piloten.
Der Erste Weltkrieg ist fast zu Ende, als Ernst Heinkel seinen ehemaligen Studienkollegen Hanns Klemm vom Luftschiffbau zu den Hansa und Brandenburgischen-Flugzeugwerken holt. Klemms Fachgebiet ist die Baustatik. Ein halbes Jahr später wechselt Klemm zu Daimler nach Sindelfingen. Der Autohersteller steigt nun auch in den Militärflugzeugbau ein, doch der Frieden verhindert Schlimmeres.
Design der L 20 prägt eine ganze Typenfamilie
Klemms ziviler Erstling, die L 15, kommt 1919 durch die Bedingungen des Versailler Vertrags nicht übers Rollen hinaus, erst vier Jahre später fliegt sie so richtig. Aber es steckt schon viel von Klemms künftiger Konstruktionsphilosophie in ihr: Leichtbau, schwach motorisiert, nicht spektakulär in der Flugleistung, aber einfach in Herstellung und Handhabung, aerodynamisch sauber und somit wirtschaftlich im Betrieb.
Über die L 17 und L 18 tastet und testet sich Klemm konsequent zur L 20 vor, deren Design eine ganze Typenfamilie (bis zur Kl 35) prägen wird. Konstrukteur Martin Schrenk macht aus dem rundlichen Ausgangsmuster L 15 die viel einfacher zu fertigende L 20 mit ihrem eckigen Rumpf. Leer wiegt diese fliegende Kiste magere 265 Kilo bei einer Abflugmasse von 450 Kilo; heutzutage ein reinrassiges UL!
Mit 20 PS auf 6700 Meter
Die Werknummer 1 hat zunächst eine kleine Zehn-Meter-Tragfläche, mit der sie erstmals im Oktober 1924 in Sindelfingen fliegt. Bereits bei diesem Exemplar mit der Kennung D-608 erhöht man kurz darauf die Spannweite auf 13 Meter.
Leicht überarbeitet geht der Zweisitzer als L 20B in Serie – noch bei Daimler, was rückblickend die Bezeichnung Daimler-Klemm für dieses Muster rechtfertigt. Mit der Fusion von Daimler und Benz endet 1926 vorläufig das Engagement in der Luftfahrt. Nicht für Hanns Klemm: In einem gewagten Kraftakt stellt sich der angesehene Technischer Direktor des Daimler-Karosseriebaus unternehmerisch auf eigene Beine.
L 20 wird Ausgangsmuster für Leichtflugzeugbau Klemm
Die L 20 (für die Klemm Lizenzgegühren an Daimler entrichten muss) wird zum erfolgreichen Ausgangsmuster für seinen am 15. Dezember 1926 gegründeten Leichtflugzeugbau Klemm, dem auch eine Fliegerschule angeschlossen ist. Als Standort wählt Klemm Böblingen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Sindelfingen. Mit acht Mitarbeitern geht’s los. Für angemessene 10 000 Reichsmark bekommt der Kunde ein Produkt, das zum Vorreiter künftiger Leichtflugzeuge wird.
In der schlichten Holzkonstruktion, die solo von vorn geflogen werden muss, steckt allerdings mehr als ein braves Schulflugzeug. Bei internationalen Wettbewerben in Brüssel und Kopenhagen fliegt die L 20 ganz vorne mit, und wer es darauf anlegt, kommt damit sehr weit – etwa von Stuttgart über die Alpen nach Budapest mit Zwischenlandung in Wien-Aspern. Oder hoch: Eine L 20 klettert im März 1927 auf 6700 Meter. Auch für fliegerische Kabinettstückchen ist die L 20 brauchbar, etwa für Ernst Udets Landung und Start auf dem tief verschneiten Zugspitzplatt 1928 (auf Ski, versteht sich).
Friedrich Karl Freiherr Koenig und seine L 20
Doch keine L 20 kommt weiter in der Welt herum als der »Kamerad«. So nennt der 22-jährige Friedrich Karl Freiherr Koenig von und zu Warthausen seine L 20 treuherzig. Zuerst peilt er damit nur Moskau an. »Mit diesem Küken willst du nach Russland fliegen? Wenn du bei Fürstenwalde ’ne Panne hast, schreib ’ne Ansichtskarte …« – so wird das Vorhaben von Freunden bewitzelt. Am 12. August 1928 startet der junge Mann in Berlin-Tempelhof. Ganze 16 Monate wird er unterwegs sein und nicht nur nach Russland knattern, sondern mit 20 PS einmal um den Erdball!
Als Wetterschutz hat der »Kamerad« einen Paraffin-Überzug bekommen. Mit zwei Reservetanks kann er Sprit für 20 Flugstunden bunkern. Zwei Tage nach dem Start in Berlin landet die D-1433 tatsächlich in Moskau. Weil es bisher so gut geklappt hat, gibt es kein Halten mehr – weiter auf südöstlichen Kurs! Was bis heute an seinem Fernflug-Abenteuer erstaunt, ist die lässige Selbstverständlichkeit, mit der sich Friedrich Karl ohne große Vorbereitung auf die Reise macht und sich von einer Etappe zur anderen hangelt.
Irgendwo am Persischen Golf zeigt der Kasein-verleimte
»Kamerad« erste Verschleißerscheinungen. Taschentücher und Hühnereiweiß als Klebelack müssen zur Reparatur herhalten.
Mit der L 20 rund um die Welt
Weiter durchs »Wunderland Indien«. Von Singapur aus reist der zerlegte Vogel an Deck eines Frachters nach San Francisco. In El Paso wird Friedrich Karl in einen Autounfall verwickelt und schwer verletzt. Der Rest seiner Winterreise durch die USA gestaltet sich mühsam. Das Wetter wird immer ungemütlicher. Die L 20 geht allmählich in Selbstauflösung über, und auch der Daimler-Motor ist erledigt. Doch der sture Freiherr hält bis zum berühmten New Yorker Flugplatz Roosevelt Field durch. Ankunft am 2. November 1929. Am 22. November ist der Pilot wieder zuhause – ohne seinen »Kamerad«. Die Spur der treuen Klemm verliert sich in den USA.
Ähnlich ergeht es den meisten L 20. Von den höchstens 80 gebauten Exemplaren hat kein vollständiges die Zeiten überstanden. Dennoch nimmt viele Jahre nach seinem Weltflug der inzwischen 74-jährige
Friedrich Karl Freiherr Koenig von und zu Warthausen wieder in einer L 20 Platz. Es ist ein Neuaufbau, wenn auch nur statisch. Als Basis dienten originale Flügel und ein Höhenleitwerk, die das damalige Daimler-Benz-Museum 1976 in Oldenburg aufgestöbert hatte. Die Günzburger Firma Williams übernahm die Restaurierung und die Anfertigung fehlender Komponenten – knifflig, weil man sich mangels Plänen mit der Vermessung historischer Fotos behelfen musste. Doch pünktlich zum Hanns-Klemm-Gedächtnistreffen 1980 hat es der neue »Kamerad« nach Eutingen geschafft.
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