Unfallakte

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Überlastungsbruch in den Alpen: EV-97 Eurostar am Limit

Fliegen im Hochgebirge hat seine eigenen Gesetze. Die Gewalt der Natur trifft Piloten immer wieder unvorbereitet – besonders, wenn sie sonst nur im Flachland unterwegs sind. Kommen dann noch Materialschwächen am Flugzeug hinzu, wird der Ausflug schnell zum Himmelfahrtskommando

Von Redaktion

Die Natur interessiert sich nicht für Belastungsgrenzen. Ob die nun in den Bauvorschriften stehen oder vom Hersteller garantiert werden, ist einerlei. Beide können nur eine relative Sicherheit bieten, keine absolute. Um die Konfrontation mit extremen Naturgewalten zu vermeiden, hilft nur eins: Gefahrengebiete meiden. Besonders im Gebirge können diese aber buchstäblich aus heiterem Himmel entstehen. Rechtzeitig erkennen und umfliegen kann man solche lokalen Wetterphänomene nur mit einer guten Flugvorbereitung und viel Erfahrung. Besonders an Letzterem mangelte es zwei dänischen Piloten, die im Juni 2006 einen Abstecher in die Schweizer Hochalpen machten.

An einem Frühsommertag wollen die beiden Ultraleichtpiloten einen Rundflug ins Engadin unternehmen. Sie sind Teilnehmer des ersten Schweizer Microlight-Treffens auf dem Flugplatz Mollis südwestlich des Walensees im Kanton Glarus. Erst seit März desselben Jahres dürfen ausländische UL-Piloten in die Schweiz einfliegen. Die Dänen wollen in Richtung Bad Ragaz, Prättigau und Davos, dann über den Flüelapass nach Livigno und über das Bernina-Massiv, Tiefencastel und Chur wieder zurück nach Mollis. Vor dem Flug informieren sie sich beim Veranstalter und bei einigen schweizerischen Piloten über die geplante Route, dann tragen sie sich in die Startliste des Fly-ins ein. Ob sie auch den angebotenen Wetterdienst in Anspruch nehmen oder sich auf anderem Weg über die Lage in der Region informieren, ist nicht bekannt.

Dänen in der Schweiz: Erst seit März desselben Jahres dürfen ausländische UL-Piloten in die Schweiz einfliegen

Gegen 17.30 Uhr Ortszeit startet der Tiefdecker und dreht nach Verlassen der Platzrunde auf Kurs Südost. Was danach passiert, lässt sich später nur noch bruchstückhaft rekonstruieren. Etwa eine Stunde nach dem Start in Mollis beobachtet ein Zeuge an der Ofenpassstraße für wenige Sekunden „eine Erscheinung am Himmel“. Offenbar wird er in diesem Moment Zeuge des Unglücks: Das UL stürzt in einer vermutlich fast senkrechten Trudelbewegung in einen Bergwald am Hang der Spölbachschlucht im Schweizer Nationalpark Engadin. Da der Augenzeuge sich nicht sicher ist, was er da gesehen hat, fährt er zwei Mal die Ofenpassstraße ab, findet aber keine Hinweise auf einen Unfall. Als die Dänen um 21 Uhr noch nicht von ihrem Lokalflug zurückgekehrt sind, stellen die Veranstalter des Fliegertreffens von Mollis Nachforschungen an, ob der Eurostar auf einem der Plätze entlang der geplanten Flugroute zwischengelandet ist, jedoch ohne Erfolg.

Unwegbares Gelände: Die Unfallstelle liegt in einem engen Tal, Rettungskräfte fanden die völlig zerstörte Maschine auf einer Felsnase in den Bäumen. Die abmontierte Fläche lag 470 Meter vom Hauptwrack entfernt (Foto: SUST)

Inzwischen sind in dem Gebiet Gewitter aufgezogen. Bei Einbruch der Dunkelheit verständigen die Organisatoren schließlich den Schweizerischen Such- und Rettungsdienst. Erst am folgenden Tag gegen 15 Uhr entdeckt die Besatzung eines Rettungshubschraubers das Wrack des Tiefdeckers. Pilot und Passagier können nur noch tot geborgen werden. Das Bergungsteam findet die Körper der beiden Insassen zwischen Trümmerteilen unterhalb einer Felsnase im Bachbett der Spöl und am Ufer. Das Wrack liegt an einem steilen Abhang westlich des Bachlaufs. Anschnallgurte und Steuerseile haben sich in Bäumen verfangen und halten die schweren Teile etwa 50 Meter über dem Bach am Abhang fest. Eine Trümmerspur aus Cockpithaube, -rahmen und kleineren Gegenständen zieht sich über 900 Meter in südöstlicher Richtung. 470 Meter vom Hauptwrack entfernt finden die Einsatzkräfte den linken Flügel des Eurostars: Offenbar wurde er im Flug vom Rumpf abgerissen.

Das UL stürzt in einer vermutlich fast senkrechten Trudelbewegung in einen Bergwald

Bei den folgenden Untersuchungen stellt das Schweizerische Büro für Flugunfalluntersuchungen (BFU) einen möglicherweise fatalen Mangel an der Maschine fest: Das Material der Flügelholmgurte (Verstärkungen an Ober- und Unterseite des Holms) hatte nicht die Festigkeit, die es laut Hersteller haben sollte. Der Grund: Ein Zulieferbetrieb hatte dem Flugzeugbauer Evektor-Aerotechnik Aluminium verkauft, das nicht die geforderten Eigenschaften aufwies. Spätere Tests mit einem Flügel, der aus dem gleichen Metall bestand wie der Unfallflügel, haben laut Evektor jedoch ergeben, dass die in den Bauvorschriften geforderte Maximallast immer noch um 17 Prozent überboten wurde. Die Strukturfestigkeit des Flügels wird durch einen statischen Bruchtest nachgewiesen.

Die dänische EV-97 Eurostar ist in einen steilen Berghang gestürzt, nur der Stamm einer Kiefer hinderte das Wrack daran, noch tiefer ins Tal abzurutschen (Foto: SUST)

Ungeachtet der Unstimmigkeiten zwischen Materialdeklaration und tatsächlich verbautem Material beanstanden die eidgenössischen Unfallermittler, dass in Bezug auf die Ermüdungsfestigkeit keine ausreichenden Untersuchungen vom Hersteller vorgenommen worden seien und dass die Bauvorschrift LTF-UL im Punkt 627 nicht erfüllt sei. Dort steht: „Der Festigkeitsverband muss – soweit durchführbar – so gestaltet sein, dass Stellen mit Spannungshäufungen und hohen Spannungen vermieden und die Auswirkungen von Vibrationen berücksichtigt werden. Werkstoffe, die schlechte Eigenschaften bezüglich Rissfortpflanzung haben, sind zu vermeiden und Zusammenbauten, insbesondere in der Primärstruktur, müssen ohne Schwierigkeiten überprüfbar sein …“ Im Untersuchungsbericht des BFU heißt es dazu wörtlich: „Die Konstruktion der Flügelaufhängung erfüllt die Festigkeitsanforderungen der deutschen LTF-UL nicht.“ Der Eurostar war zudem nach der in Dänemark gültigen höchstzulässigen Abflugmasse von 450 Kilo um 17 Kilo überladen.

Zu hohe Abflugmasse: Die Eurostar war überladen

Ob die linke Fläche der Unfallmaschine mit hochwertigerem Material für die Holmgurte beim Flug über den Hochalpen des Engadin am Unfalltag nicht abmontiert hätte, ist dennoch zweifelhaft. Unter Segelfliegern gilt das Gebiet zwischen der Ofenpassstraße und Zernez als schwierig: heftige Aufwinde, verbunden mit starken Turbulenzen, sind hier an thermisch aktiven Tagen typisch. Am Unfalltag war die Luft so labil, dass die Flugwetterprognose Gewitter für wahrscheinlich hielt. Im Oberengadin wehte der Malojawind, ein lokales Wetterphänomen, das bei starker Thermik entsteht. Im Bergell, südwestlich des Malojapasses, bläst dann der Talwind so stark talaufwärts, dass er über den Malojapass ins Oberengadin „hinüberschwappt“. Als Südwestwind dominiert er dort sogar den lokalen, an thermisch weniger aktiven Tagen aus Nordost wehenden Talwind. Weil der Malojawind talabwärts fegt, über St. Moritz hinweg in Richtung Zernez, wird er auch „der verkehrte Wind“ genannt.

Gefährlicher Wind: Die Region südöstlich von Zernez gilt unter Segelfliegern als schwierig. Malojawind und Thermik sorgen im Unfallgebiet für Turbulenzen (Foto: SUST)

Das Phänomen führt zu heftigen Turbulenzen an den östlich ausgerichteten Flanken. Ob ein Ultraleichtflugzeug solche Naturgewalten in jedem Fall schadlos überstehen kann, scheint mehr als fraglich. Nachdem die Fläche des Tiefdeckers abgerissen war, hatten die beiden dänischen Piloten keine Chance, den Sturz in das enge Tal noch zu beenden. Ein Gesamtrettungssystem, das in vielen Teilen Europas inzwischen zur Standardausstattung bei ULs gehört, hätte ihnen vielleicht das Leben gerettet. Bei in Dänemark zugelassenen Maschinen ist es jedoch nicht zwingend vorgeschrieben. Die Unfallmaschine hatte keins.

Materialüberprüfung des Herstellers Evektor Aerotechnik

Nach Auskunft von Gerd-Peter Kuhn, Deutschland-Importeur des tschechischen Herstellers Evektor-Aerotechnik, werden die Tragflächen der 40 bis 45 hierzulande betriebenen EV-97 bis zum 30. Juni 2010 an mehreren Prüfstellen untersucht. Wenn die Materialdiagnose ergibt, dass minderwertiges Material verwendet wurde, muss das betreffende Luftfahrzeug zum Hersteller nach Kunovice in Tschechien. Dort werden die erforderlichen Modifikationen kostenlos durchgeführt. Vorerst hat Evektor die Grenzgeschwindigkeiten der EV-97 reduziert: die Manövergeschwindigkeit von 170 auf 140 km/h, die Geschwindigkeit in turbulenter Luft von 200 auf 170 km/h und die Maximalgeschwindigkeit (Vne) von 270 auf 240 km/h. Weitere Informationen für Halter und Piloten der EV-97 sind auf www.ul-eurostar.de veröffentlicht.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 3/2010

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