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Startprobleme – Cessna durchbricht Böschung samt Hecke
Ein schöner Sommertag: Vier Personen brechen in der Region Stuttgart zu einem Rundflug auf. Ihre Cessna nimmt Anlauf, kommt allerdings nicht vom Boden weg.
Mal ehrlich: Auch wenn sie gesetzlich für jeden Flug vorgeschrieben ist, dürfte der ein oder andere Privatpilot schon mal auf eine Start- und Landestreckenberechnung verzichtet haben. Zumal vor einem kurzen Rundflug. Schließlich fliegt man in der Regel immer denselben Flugzeugtyp.
Doch auch der eigene Flieger oder die immer wieder gecharterte Maschine können selbst erfahrene Piloten unter bestimmten Bedingungen noch überraschen. Dies erfährt der Pilot einer Cessna FR172G im August 2020 schmerzlich. Wir haben den etwas älteren Unfallbericht aufbereitet, da unabhängig vom Zeitpunkt etwas daraus gelernt werden kann.
Die Cessna beschleunigt auf der 570 Meter langen Graspiste nur sehr langsam
Der 81-jährige Pilot bricht am Flugplatz Nabern/Teck (EDTN) gemeinsam mit drei Gästen zu einem Rundflug auf, der zirka 30 Minuten dauern soll. Das Wetter an diesem Sommertag könnte besser nicht sein: Der rund 22 Kilometer nordwestlich gelegene Verkehrsflughafen Stuttgart meldet
CAVOK bei einer Temperatur von 27 Grad Celsius, der Wind weht an diesem Nachmittag mit drei bis vier Knoten aus nördlichen Richtungen.
Als der Pilot, der gleichzeitig Eigentümer und Halter der Cessna ist, den Startlauf auf der 570 Meter langen Graspiste 32 beginnt, beschleunigt der Hochdecker nur langsam. Aus dem Video eines Zeugen, der das Geschehen filmt, wird ersichtlich, dass das Flugzeug die gesamte Piste entlangrollt, ohne dabei abzuheben. Am Ende der Bahn überrollt es mit leicht angehobenem Bugrad und gezogenem Höhenruder einen quer zur Bahn verlaufenden Weg – und setzt den Startlauf auf einer an den Flugplatz angrenzenden Wiese fort.
Cessna hebt nicht ab und durchbricht Böschung samt Hecke
Als die Cessna auch am Ende der etwa 160 Meter langen Grasfläche noch immer nicht in der Luft ist, durchbricht sie eine Böschung samt Hecke. Auf dem dahinter liegenden Parkplatz kollidiert sie schließlich mit einem Auto, dreht sich dabei 180 Grad um die Hochachse und kommt rückwärts zum Stehen. Dabei werden zwei weitere parkende Autos beschädigt. Der Pilot und zwei der Passagiere kommen mit leichten Blessuren davon – die beiden auf der Rückbank sitzenden Personen verletzen sich am Nasenbein.
Weniger Glück hat der vorn rechts sitzende Passagier, er zieht sich eine Kieferfraktur zu. Die 1970 im französischen Reims in Lizenz gebaute Cessna hat an allen vier Sitzen nur Beckengurte: Zusätzliche Schultergurte hätten die teils schweren Gesichtsverletzungen mit Sicherheit gemildert. Alle Personen verlassen das Wrack aus eigener Kraft.
Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung kann Verlauf des Starts präzise rekonstruieren
Dank des umfangreichen Videomaterials gelingt es der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU), den Verlauf des Starts präzise zu rekonstruieren. So zeigt das Zeugenvideo, dass das Flugzeug ungefähr 16 Sekunden bis zum Erreichen der Halbbahnmarkierung benötigt; nach zirka 28 Sekunden erreicht die Cessna das Pistenende.
Die Ermittler schätzen anhand von Zeitindex und Landereiter-Abständen, dass die Maschine bis zur Halbbahnmarke auf etwa 40 Knoten beschleunigt. Als sie das Pistenende überschießt, dürfte die Geschwindigkeit nicht mehr als 42 Knoten betragen haben. Laut Flughandbuch liegt die Abhebegeschwindigkeit des Unfallmusters bei 55 Knoten. Auf der an den Flugplatz angrenzenden Wiese konnten keine Bremsspuren festgestellt werden.
Die Cessna war zum Zeitpunkt des Unfalls nicht überladen
Überladen war die Einmot nicht; zum Zeitpunkt des Unfalls wog die Maschine 1090 Kilogramm inklusive 60 Liter Kraftstoff, die maximale Abflugmasse beträgt 1157 Kilo. Allerdings: Am Tag zuvor tankte der Pilot 50 Liter Superbenzin, obwohl für den verbauten Motor vom Typ Continental IO-360-D keine ergänzende Musterzulassung (STC) zum Betrieb mit Autokraftstoff beziehungsweise Mogas vorlag. Die Landeklappen waren fünf Grad ausgefahren, die Trimmung war kopflastig eingestellt, alle Bedienhebel für den Antrieb standen auf volle Leistung (Gas/Propeller/Gemisch). Die Parkbremse war nicht angezogen.
Neben der Frage, warum das Flugzeug nicht rechtzeitig die erforderliche Rotationsgeschwindigkeit von 55 Knoten erreichte, bleibt vor allem offen, warum der Pilot den Startlauf nicht allerspätestens bei der Annäherung ans Pistenende abbrach, sondern ihn außerhalb des Flugplatzgeländes sogar noch fortsetzte. Eine Faustformel besagt, dass auf kurzen Pisten auf Höhe der Halbbahnmarkierung 70 Prozent der Abhebegeschwindigkeit erreicht sein sollten.
Der 81 Jahre alte Pilot war mit 1510 Flugstunden durchaus erfahren
Tatsächlich war dies hier sogar der Fall. Doch angesichts des herannahenden Endes der Piste bei stagnierender Speed wäre ein Startabbruch die logische und beste Entscheidung gewesen. Mit rund 1510 Flugstunden war der 81-Jährige durchaus erfahren, aber in den Monaten der laufenden Saison, ab Anfang Mai, hatte er mit seiner Maschine nur wenige und eher kurze Flüge unternommen. Weitere Ermittlungen zeigen, dass der Pilot mutmaßlich nicht die zum Fliegen mit Passagieren erforderlichen drei Starts und Landungen innerhalb der letzten 90 Tage vor dem Unfallflug gemacht hatte.
Der BFU-Zwischenbericht aus dem August-Bulletin lässt zudem offen, ob der Pilot vor dem Flug eine Startstrecken-Berechnung durchgeführt hatte. Immerhin liegt der Flugplatz Nabern/Teck auf einer Höhe 1191 Fuß ASL, und die Temperatur betrug am Unfalltag 27 Grad Celsius. Beide Faktoren dürften die Startleistung der Cessna gemindert habe. Legt man die METAR-Angaben des Stuttgarter Flughafens zum Unfallzeitpunkt zugrunde, dann betrug die Dichtehöhe in Nabern/Teck nahezu 2800 Fuß.
Ein Startabbruch sollte immer in Erwägung gezogen werden
So etwas zu wissen und auch zu berücksichtigen hilft abzuschätzen, ob die Beschleunigung eines Flugzeugs normal ist oder nicht. Sollte der Flieger laut Berechnung nach 300 Metern in der Luft sein und hat selbst nach 400 Metern noch immer nicht die Abhebegeschwindigkeit erreicht, muss dem Piloten klar sein, dass etwas nicht stimmen kann – Startabbruch!
Dank diverser Apps für Smartphone und Tablet-Computer muss dafür niemand mehr Flughandbücher wälzen, die Kalkulation ist mit wenigen Klicks erledigt. So bleiben am Ende einige Fragezeichen zurück.
Autor: Martin Schenkemeyer
Martin Schenkemeyer begann im Jahr 2007 mit dem Segelfliegen. Inzwischen ist er ATPL-Inhaber und fliegt beruflich mit Businessjets um die ganze Welt. In seiner Freizeit ist er als Vorstand seines Luftsportvereins tätig und fliegt an seinem Heimatflugplatz Bad Pyrmont Segelflugzeuge, Ultraleichtflugzeuge und Maschinen der E-Klasse. Für das fliegermagazin ist der Fluglehrer seit 2020 als freier Autor tätig und beschäftigt sich hauptsächlich mit Themen rund um die Flugsicherheit.
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