Praxis

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Sinnestäuschungen

Obwohl unser Gleichgewichtsgefühl am Boden meist gut funktioniert: Sobald die optische Referenz fehlt, verschwindet die Sicherheit

Von Redaktion
Alarm: Auch wenn sich für den Piloten ohne Außensicht 
alles normal anfühlt – hier stimmt nichts: Nase und Steigrate sind zu hoch, die Querlage ist groß, die Speed sinkt Foto: Helmuth Lage

Selbst erfahrene VFR-Piloten nehmen es ihren IFR-geschulten Kollegen oft nicht ab. Sie können schlicht nicht glauben, dass man ohne Außensicht und Künstlichen Horizont kein Gefühl mehr dafür hat, wo oben und unten ist. Eine Fehleinschätzung mit potenziell tödlichen Folgen. Am meisten Eindruck macht die praktische Demonstration. Man nehme die Pilotenfreunde mit in die Wolken, verweigere ihnen den Blick auf den Attitude Indicator – und dann warte man einfach ab.

Zeit zur Umkehr: Als VFR-Pilot verbietet 
sich der Einflug in Wolken. Erst muss 
gelernt werden, Sinnestäuschungen zu 
ignorieren und den Instrumenten zu trauen

Das Resultat ist immer gleich: Nach einer Weile bei leichten Turbulenzen, einem kurzen Steig- oder Sinkflug oder einigen flachen Kurven sind die gerade noch so selbstsicheren Herrschaften vollkommen im Unklaren darüber, ob es wieder stur geradeaus geht – oder noch durch wilde Kurven.

Der Gleichgewichtssinn muss durch eine optische Referenz unterstützt werden

Zutiefst menschlich ist diese Täuschung der Sinne, denn der Gleichgewichtssinn allein genügt einfach nicht, um über die Lage des Körpers im Raum zu befinden. Erst eine optische Referenz bringt Gewissheit. Deshalb braucht man beim Sichtflug  in Motorflugzeugen zur Überwachung der Fluglage nicht viel: Am wichtigsten ist die Horizontlinie draußen vor dem Fenster. Schwieriger allerdings wird die Situation bereits bei diffusem Horizont.

Das Ergebnis: Wer in so einer Fluglage aus den Wolken fällt, hat noch Glück – weil er in dieser Höhe genug Raum zum Abfangen hat. Dabei muss aber alles richtig gemacht werden

Wer als wenig erfahrener VFR-Pilot eine Kurve bei diesigem Wetter über dem Meer fliegt, kommt schnell anders heraus als geplant, wenn er nur gelernt hat, die Flugzeugnase am natürlichen Horizont entlang zu führen und damit auch die Schräglage zu kontrollieren. Für einen sauberen Kurvenflug bedarf es in solchen Situationen der Kontrolle durch den Künstlichen Horizont. Deshalb ist es ein wesentlicher Beitrag zur Sicherheit und Vermeidung der berüchtigten Schlechtwetterunfälle, dass eine sauber geflogene Umkehrkurve unter der IFR-Haube inzwischen Bestandteil von PPL-Ausbildung und -prüfung ist, und nun auch Hoffnung auf eine leichter zu erlangende Instrumentenflugberechtigung besteht (siehe Seite 33).

Von wegen Hosenbodengefühl

Wie kommt es, dass der Mensch ohne klare Sicht nach außen auf die richtige Interpretation seiner Instrumente angewiesen ist und das berühmte Hosenbodengefühl ihn eher in die Irre leitet statt zu helfen?

Drei Sinne müssen im Zusammenspiel funktionieren, damit die Lageinterpretation ohne Täuschungsgefahr abläuft. Die wichtigste Rolle spielt dabei das Auge. Solange ein Horizont sichtbar ist, lassen sich im Gehirn abweichende Informationen der anderen Sinnesorgane fast gänzlich unterdrücken. Eine weitere Empfindung bietet die Haut mit ihrer Druckempfindlichkeit, also das bereits erwähnte Hosenbodengefühl, unterstützt von Rezeptoren, die die Körperhaltung anhand von Gelenkstellungen registrieren und bei Diskrepanzen zum optischen Eindruck versuchen, Abweichungen zu kompensieren.

Dreiachser: Die drei Bogengänge im Ohr stehen senkrecht zueinander, sodass 
sie Lageänderungen um alle Raumachsen wahrnehmen können

Deutlich wird das, wenn sich jemand bei falschen optischen Eindrücken unwillkürlich in eine andere Richtung beugt. Noch wichtiger ist das Gleichgewichts- oder Vestibularorgan im Innenohr, das sowohl lineare als auch Rotationsbeschleunigungen des Körpers misst. Drehungen werden in drei Bogengängen registriert, die senkrecht zueinander stehen und mit einer gallertartigen Flüssigkeit, der Endolymphe, gefüllt sind, in die kegelförmige Sinneszellen hineinragen.

Die Trägheit der Masse kann zu Sinnestäuschungen führen

Mit jeder Bewegung des Körpers bleibt diese Flüssigkeit durch die Trägheit der Masse kurzzeitig hinter der Bewegung des Bogengangs zurück. Die Flüssigkeit fließt in den Gängen, die Sinneszellen werden dadurch ausgelenkt. Dieser Impuls wird dem Gehirn gemeldet. Es gibt allerdings ein Problem. Hält eine Drehbewegung über einen längeren Zeitraum an – zum Beispiel im stationären Kurvenflug – so kommt die Endolymphe nach etwa zwanzig Sekunden zur Ruhe, und es ergeht die Fehlmeldung an das Gehirn: „Drehung beendet!“

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Kurvenflug

Ebenso bewirkt zum Beispiel das schnelle Ausleiten einer Kurve mit zügigem Abstoppen der Drehung um die Längsachse einen Ausschlag der Sinneszellen in die Gegenrichtung und provoziert eine Fehlmeldung zur anderen Seite. Dies kann zum gefürchteten Vertigo, also zum  Gefühl des Drehschwindels führen. Nach grundsätzlich ähnlichem Prinzip registriert ebenfalls im Innenohr das Statolithenorgan lineare Beschleunigungen. Auch dort werden Sinneszellen in horizontaler oder vertikaler Richtung ausgelenkt, und auch dabei können falsche Eindrücke entstehen. So kann das Organ nicht unterscheiden, ob ein horizontaler Reiz aus einer Beschleunigung nach vorn oder einem Übergang in den Steigflug entsteht. Genau dieses Phänomen haben sich die Konstrukteure von Flugsimulatoren für ihre hydraulische Kinematik zunutze gemacht. Weil der Blick nach außen fehlt, lässt sich etwa das Beschleunigen auf der Piste durch ein Kippen des Cockpits simulieren.

Auf das Auge ist Verlass

Die wichtigste Erkenntnis aus der Betrachtung der Sinne: Das Auge kann der Täuschung widerstehen. Deshalb muss jeder IFR-Schüler mühsam lernen, all die anderen, potenziell falschen Sinneseindrücke zu ignorieren und allein dem zu trauen, was seine Augen auf den Instrumenten wahrnehmen. Hier liegt übrigens einer der großen Vorteil von Glascockpits. Deren Horizontlinie ist so groß, dass eine Bewegung fast schon ebenso aus dem Augenwinkel wahrnehmbar ist wie beim natürlichen Horizont.

Schlechte Sicht bei Helgoland: Flüge über Wasser 
können gefährlich werden, wenn die Horizontlinie 
im blaugrauen Dunst verschwindet

Für die Beurteilung der Fluglage ist das Basic-T entscheidend, das in der Mitte traditioneller IFR-Panels angeordnet ist. Oben finden sich von links nach rechts Fahrtmesser, Künstlicher Horizont und Höhenmesser; darunter mittig der Kurskreisel. Turn Coordinator (unten links) und Variometer (unten rechts) gehören ebenfalls zur Standardausrüstung. Beim Glascockpit ist die Verteilung ähnlich, die Integration der Informationen aber höher. Zentrales Instrument ist der Künstliche Horizont. Von ihm ausgehend pendelt beim Instrument Scan in einer Endlosschleife der Blick nach links zum Fahrtmesser, zurück über den Horizont nach rechts zum Höhenmesser. Schließlich – wieder über den Horizont – zum Kurskreisel und dann zurück zum Ausgangspunkt, dem Horizont. Das gilt im Geradeausflug – bei Fluglagewechseln verändern sich die Prioritäten ebenso wie bei Instrumentenausfällen.

Regelmäßiges Üben ist unverzichtbar

Und dann sind da noch all die übrigen Instrumente und Geräte, die interpretiert und bedient werden müssen. Kein Wunder, dass die IFR-Ausbildung etwas Zeit kostet! Doch der grundsätzliche Scan, wie eben beschrieben, ist der einzige Weg, mit dem sich ein Flugzeug, das unerwartet in IMC geraten ist, stabilisieren lässt. Für den Notfall – aber nur für den – sollte er regelmäßig mit einem Fluglehrer geübt werden. Ständiges Training ist auch für ausgebildete IFR-Piloten unverzichtbar.

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Lizenzerneuerung

Wer sein Rating nur selten nutzt, kann sich auf die einmal erlernten Fähigkeiten nicht unbedingt verlassen, wenn er nicht in Übung ist. Sinnestäuschungen sind Bestandteil unserer Konstitution, sie lassen sich nicht wegtrainieren. Die Fähigkeit, bewusst und besonnen damit umzugehen und die falschen Empfindungen in jeder Situation ignorieren zu können, muss immer wieder geübt werden. Räumliche Disorientierung ist eine der größten Gefahren in der Fliegerei. Wer sich durch regelmäßiges Training fit hält, gewinnt das notwendige Selbstvertrauen im Umgang mit unerwarteten Situationen. Und im beruhigenden Bewusstsein, auf alles gut vorbereitet zu sein, kann man jeden Flug gleich doppelt gut genießen.

Text: Helmuth Lage, Fotos: Helmuth Lage, Peter Wolter, Sebastian Wirth fliegermagazin 11/2011

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