Praxis-Tipp: Persönliche und Betriebliche Grenzen
Wer sicher fliegen will, muss eine Fülle von unüberschreitbaren Limits beachten. Manche dieser Grenzen lassen sich verrücken, andere nicht. Der Umgang mit Grenzen will gelernt sein.
Gute Vorsätze sollte man nicht nur zu Beginn eines neuen Jahres haben. Und manchmal liegt dem einen oder anderen Vorsatz die Erinnerung an fliegerische Grenzsituationen zugrunde, die Anlässe für Selbstbesinnung bieten und zum festen Entschluss führen, so etwas nie wieder erleben zu wollen. Wir Piloten bewegen uns permanent in einem Spinnennetz aus roten Linien, und wir sind alle dringend aufgefordert, keine von ihnen zu berühren.
Da gibt es zunächst einmal die absolut unbeweglichen Grenzen, die der Flugzeughersteller vorgegeben hat. Im Handbuch finden sie sich in Kapitel 2 als „Betriebsgrenzen„. Wer sie überschreitet, wird zum Testpiloten, ohne diese Profession je erlernt zu haben – und bewegt sich zudem außerhalb der Legalität.
Betriebsgrenzen: Wer sie überschreitet wird zum Testpilot
Das gilt auch für die zweite Kategorie der vom Gesetzgeber bestimmten Limits, zum Beispiel solche, die Wetterminima vorgeben. Diese Grenzen lassen sich, wie wir gleich sehen werden, erstaunlicherweise verschieben. Die dritte Gruppe von Grenzen ist permanenter Veränderung unterworfen, was uns eine ständige Reaktionsbereitschaft abverlangt. Schauen wir uns das Netz aus roten Linien also genauer an. Die meisten von ihnen lassen sich in Verbindung mit einer in aller Ruhe und möglichst emotionsfrei durchgeführten Flugplanung gut erkennen, sodass man mit ihnen umgehen kann.
Beginnen wir mit den vom Hersteller festgelegten Limitations. Die maximale Abflugmasse MTOM zum Beispiel lässt sich durch nichts schönrechnen. Das Gewicht der Insassen findet man auf der Anzeige der Badezimmerwaage plus Kleidung plus Gepäck – nicht in der charmanten subjektiven Betrachtung. Es gibt keine Ausflüchte: Die Aussage, dass vier Personen in einer Cessna 172 sitzen, verrät nichts über den Beladungszustand. Den verrät erst die Berechnung der Summe ihrer Massen – für jede Passagierbesetzung aufs Neue.
Überladung: Vor dem Start ausschließen
Das Risiko einer Grenzüberschreitung ist erheblich: Wenn Überladung etwa einen Startunfall mitverursacht haben könnte, steht man vor Gericht und vor der Versicherung schnell als Schuldiger fest – mit allen Folgen für ein mögliches Strafverfahren und vor allem die Entbindung von der Leistungspflicht der Versicherung. So etwas lässt sich schon vor dem Start ausschließen, sofern man sich nicht von Emotionen in eine Ecke drängen lässt. Bevor ein Pilot Gäste zum Flug einlädt, sollte er das geklärt haben, und nicht erst am schlimmstenfalls bereits vollgetankten Flugzeug.
Eine MTOM lässt sich übrigens auch nicht mit dem gern gehörten Argument aushebeln, dass die Piste ja ganz besonders lang sei. Denn die Massegrenze ist ein Strukturlimit, das von keiner Pistenlänge abhängt und während des gesamten Flugs gilt. Ähnlich hart sind die Grenzen für die maximal zulässige Geschwindigkeit, aber auch für die Spritqualität oder die Ölmenge im Motor. Betrachten Sie die Limitations Ihres Flugzeugs nicht als dehnbare Fäden, sondern als Stahlseile.
Die Nacht vergessen: Meteorologische Flugvorbereitung
Sehr viel variabler sind die roten Linien bei der meteorologischen Flugvorbereitung, sofern sie sich nicht gerade auf Extremfälle wie ein Gewitter über dem Platz beziehen. Darüber lässt sich ebenso wenig diskutieren wie über gefrierenden Regen, der selbst für voll ausgerüstete Airliner ein No-go darstellt.
Ansonsten sind die Wettergrenzen ausgesprochen variabel und teils auch subjektiv. Bei einem PPL-Anfänger setzt das Wetter ganz andere Limits als bei einem erfahrenen, gut geübten Piloten mit IFR-Berechtigung im Highend-Flugzeug. In Abhängigkeit vom Lizenzeintrag gibt der Gesetzgeber klare Limits vor – doch vernünftig sind vielleicht schon weit davor eigene, subjektiv gesetzte Grenzen. Die lassen sich verschieben, indem man neue Berechtigungen erwirbt, aber auch nur Erfahrung gewinnt oder einen besonders guten Übungsstand hat. Schließlich hat auch die Ausstattung des Flugzeugs etwas damit zu tun, welche Grenzen man einhalten muss.
Zusatzberechtigungen erweitern die Grenzen
Die erste Zusatzberechtigung nach Erwerb der PPL ist sehr oft die Nachtflugberechtigung. Mag man auch die durchaus nachvollziehbare Ansicht vertreten, dass man mit einem einmotorigen Flugzeug besser nur bei Tageslicht unterwegs sein sollte, so schafft man sich durch NVFR zumindest die Option, einen Flug legal zu beenden, wenn man sich in seiner Flugplanung verkalkuliert hat. Kein Zweifel, dass das nicht geschehen sollte. Aber gerade als Anfänger fehlt es manchem an Erfahrung, wieviel unerwarteter Zeitaufwand der erste größere Streckenflug zu einem entfernten Flugplatz mit sich bringt.
So hat es erst kürzlich ein PPL-Neuling im Verein erlebt, der auf dem Rückflug seinen Heimatplatz pünktlich wie zuvor berechnet ansteuerte. Doch erst auf halber Strecke wurde ihm bewusst, dass der Ankunftszeitpunkt nach dem Ende der bürgerlichen Dämmerung liegen würde. Selbst als ihm klar wurde, dass er im Begriff war, eine rote Linie des Spinnennetzes zu beschädigen, kam er gar nicht auf die Idee, noch rechtzeitig auf halber Strecke einen Ausweichflugplatz anzusteuern.
Zeit für die Flugvorbereitung als Anfänger verdoppeln
Er hatte das schiere Glück, dass sein Ziel ein Verkehrsflughafen, der Himmel wolkenlos und mit ihm ein zweites Flugzeug ebenfalls ohne Flugplan unterwegs war zur selben Destination. Ihm konnte sich der Neuling unter Führung eines verständnisvollen FIS-Lotsen anschließen.
Es handelte sich um keine sehr beträchtliche zeitliche Überschreitung der roten Line, aber der Faden im Spinnennetz war zerrissen. Zum Glück blieb das ohne Folgen. Und was hat der zerknirschte Kollege gelernt? Die erforderliche Zeit für die Flugvorbereitung sollte man als Anfänger ohne viel Erfahrung verdoppeln, weil immer irgendetwas länger dauert als geplant. Nebenbei wird Fliegen nie gehen.
Seitenwindkomponente: Im Handbuch steht kein hartes Limit
Ein schönes Beispiel für eine sehr flexible Grenze ist die Seitenwindkomponente. Im Handbuch steht das, was der Testpilot während der Flugerprobung zur Zulassung bewältigt hat – aber kein hartes Limit. Das wird eigentlich durch die Ruderwirkung vorgegeben: Schafft man es im Anflug nicht, Flugzeuglängs- und Bahnachse ohne seitliche Drift in Übereinstimmung zu bringen, ist der Seitenwind zu stark. Doch ohne viel Übung sollten Piloten schon sehr viel früher auf die Suche nach einer alternativen Piste gehen.
Zu oft wird unter Missachtung gesetzlicher roter Linien versucht, sich verzweifelt nach Hause durchzuwurschteln, ohne die damit verbundenen Risiken realistisch zu bewerten. Als VFR-Pilot hat man selbst mit dem modernsten Autopiloten nichts in den Wolken zu suchen! Nie sollten Piloten vergessen: Bei allem Pathos geht es tatsächlich um nicht weniger als Leben und Tod. Viel schlimmer als die Missachtung gesetzlicher Bestimmungen ist die Gefahr für Leib und Leben, in die man im Zweifel Insassen an Bord bringt, die keinerlei Möglichkeit haben, das Risiko einzuschätzen, dem sie gerade ausgesetzt sind.
Vereisung: Ein Ausweg muss bereit stehen
Eine Instrumentenflugberechtigung und ein entsprechend ausgerüstetes Flugzeug erweitert Möglichkeiten und Sicherheitsspielräume noch einmal beträchtlich. Hat man erst einmal das Instrument Rating, droht jedoch in unseren Breiten eine gefährliche Verlockung: das Fliegen in bekannten Vereisungsbedingungen.
Dafür sind viele Flugzeuge nicht zugelassen. Man kann stundenlang darüber diskutieren, ob die oft großflächigen und manchmal konservativen Vorhersagen der ADWICE-Eisvorhersage des DWD schon als „bekannte Vereisungsbedingungen“ gelten sollen. Doch wer einmal ohne Ausweg den Eisansatz am Flügel hat wachsen sehen, der lernt schnell: In Gebiete mit vorhergesagtem Eis darf es nur gehen, wenn ein Ausweg bereit steht – zum Beispiel durch Sinken in Luftschichten, die über null Grad warm sind. Das Prinzip Hoffnung hat hier keinen Platz.
Wetter: Flexible Reaktion erforderlich
Bleibt noch die dritte Gruppe der sich ständig im Fluss befindlichen Parameter, überwiegend ausgelöst durch die größte Variable in der Luftfahrt: das Wetter. Wer seine Flüge nicht ausschließlich auf stabile sommerliche Hochdrucklagen beschränkt, der weiß: Jede noch so gewissenhafte Wetterberatung kann sich überraschend als fehlerhaft erweisen. Sei es, dass das schlechte Wetter schneller heranrückt als erwartet oder sich langsamer auflöst. Sei es, dass der Gegenwind stärker bläst oder der Rückenwind schwächer.
Immer sind wir es, die darauf reagieren müssen, und einen Plan B im Köcher haben sollten. Wie viele Piloten sind schon der Versuchung erlegen, einen Anflug fortzusetzen, obwohl ein Gewitter auf den Platz zuzog. Die in Sichtweite liegende Piste übt eine enorme Anziehungskraft aus. Get-home-itis nennen die Amerikaner dieses unbedingte Streben, nach Hause zu kommen.
Klare Grenzen setzen: Kommt das Gewitter zu nah, muss man ausweichen
Dann muss man einen kühlen Kopf bewahren und sich klare Grenzen setzen. Wenn das Gewitter einen zuvor definierten Abstand unterschreitet, muss ausgewichen werden. Wenn sich der Anflug bei Seitenwind nicht stabilisieren lässt, dann ist Durchstarten die Lösung – ebenfalls gefolgt von der Suche nach einer anderen Piste.
Rote Linien, die nur wir selbst definieren können, sind die unseres aktuellen Könnens. Sie können weit unter den gesetzlich maximal zulässigen Werten liegen. Da kann sich zum Beispiel der Anflug auf eine sehr kurze Piste verbieten, wenn man wenig Erfahrung hat, gerade erst in ein neues Muster eingewiesen wurde oder man sich nach einem langen Flug ermüdet fühlt.
Sollte ich heute fliegen oder lieber nicht?
Mit einem Überdehnen dieser flexiblen roten Linien kann man sich in brandgefährliche Situationen hineinmanövrieren, ohne eine einzige Bestimmung von Gesetzgeber oder Hersteller zu überschreiten. So etwas zu vermeiden und allzeit die Übersicht zu behalten, nennt man in der Luftfahrt Situationsbewusstsein oder auch Good Airmanship.
Und das beginnt oft schon mit der Entscheidung für oder gegen ein Flugvorhaben, wenn Annäherungen an grenzwertige Situationen nicht auszuschließen sind. Der alte Spruch gilt: Es ist besser, man steht am Boden und wünscht, man wäre in der Luft, als umgekehrt.
Praxis-Tipp: Das Geheimnis der Carson-Speed
In Zeiten wachsenden Umweltbewusstseins und hoher Spritpreise rückt die Wirtschaftlichkeit des Fliegens immer mehr in den Fokus. Viele Piloten orientieren sich heute bei der Leistungseinstellung eher an „best economy“ als an „best performance“, und leanen, was das Handbuch hergibt. Geschwindigkeit wird also zugunsten von Effizienz beim Spritverbrauch geopfert. Doch wann lässt sich ein ordentlicher Zuwachs an Speed mit einem möglichst geringen Mehr an Spritverbrauch erkaufen? Diese Geschwindigkeit wurde vom amerikanischen Aerodynamiker Bernard H. Carson 1980 in einer viel beachteten innovativen Studie errechnet.
Ausgangsbasis seiner Überlegungen ist eine Speed, die alle Einmot-Piloten kennen: die Geschwindigkeit des besten Gleitens (Vbg), mit der man bei Motorausfall am weitesten kommt. Das ist so, weil bei ihr das Verhältnis von Auftrieb zu Widerstand am günstigsten ist. Läuft der Motor noch, spielen auch Propellereffekte und andere Einflüsse eine Rolle, sodass die Geschwindigkeit für die maximale Reichweite bei Kolbenmotor-Flugzeugen bei Vbg plus zehn Prozent liegt. So fliegt man die meisten Meilen pro Liter Treibstoff. Aber wer hat schon Lust oder Geduld, mit so geringer Fahrt zu zockeln. Ein wenig mehr sollte es schon sein. Aber wieviel mehr?
Text: Helmuth Lage
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