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Gesamtrettungssystem
Immer wieder diskutieren Piloten über den Fallschirm in den Flugzeugen von Cirrus. Bis Ende 2010 gab es 27 Auslösungen mit 48 Überlebenden. Ein Blick auf die näheren Umstände lohnt sich
„Pull early, pull often!“ – das ist, mit etwas Augenzwinkern, das Mantra der Cirrus Owners and Pilots Association (COPA). Der Hintergrund ist ernst: Ein Gesamtrettungssystem verlangt vom Piloten ein grundsätzliches Umdenken beim Verhalten in besonderen Fällen. Etliche Cirrus-Unfälle, bei denen das Rettungssystem nicht aktiviert wurde, hinterlassen das ungute Gefühl, dass die Piloten „vergessen“ hatten, den Schirm als möglicherweise rettende Option in Betracht zu ziehen.
Weil in Deutschland jedes UL mit einem Gesamtrettungssystem ausgerüstet sein muss und die Verbreitung der Cirrus als einziges E-Klasse-Flugzeug mit serienmäßig verbautem Schirm zunimmt, ist die Analyse der Unfälle aufschlussreich. Das Cirrus Airframe Parachute System (CAPS, siehe auch Seite 50) wurde von Anfang an in die SR-Flugzeuge eingeplant, da Firmenmitgründer Alan Klapmeier einen Zusammenstoß mit einem anderen Flugzeug nur knapp überlebt hatte. Er erhoffte sich für diesen Fall Vorteile von einem Rettungssystem. Auch, um dessen Entwicklungskosten zu kompensieren, beantragte Cirrus bei der US-Luftfahrtbehörde FAA, die aufwändige Trudelerprobung des neuen Flugzeugs auszulassen und alternativ das Auslösen des Schirms als Mittel zur Beendigung eines Trudelzustands zu akzeptieren. Entsprechend wurde das Flugzeug zertifiziert. Anders als oft zu hören, erfolgte der Einbau des Schirms nicht, weil bei der Cirrus die üblichen Verfahren zum Ausleiten eines Spins nicht funktionieren – diese wurden bei der Zulassung gar nicht erst erprobt.
Keine vollständige Sicherheit
Bei Gesamtrettungssystemen zieht nach der Auslösung durch einen der Flugzeuginsassen eine Rakete den Fallschirm aus dem Rumpf; der Schirm entfaltet sich, und die gesamte Maschine sinkt daran zu Boden.
Nach der Auslieferung von Cirrus-Maschinen ab 1999 wurde 2002 der Schirm erstmals ausgelöst, weil sich nach einem Wartungsfehler im Flug ein Querruder gelöst hatte. Der Pilot überlebt unverletzt, das Flugzeug wurde repariert und weiter eingesetzt. Mit Stand Ende 2010 gab es bisher 27 Auslösungen mit 48 Überlebenden. Allerdings garantiert CAPS keine vollständige Sicherheit. Etwa zehn Überlebende trugen schwere Verletzungen davon. Es gab auch Tote – allerdings ausschließlich in Fällen, bei denen das System nicht innerhalb der von der Zulassung vorgegebenen Parameter eingesetzt wurde.
Es gibt unterschiedliche Situationen in denen das Gesamtrettungssystem eingesetzt werden kann
Piloten setzen CAPS in den unterschiedlichsten Situationen ein, etwa bei Kontrollverlust, gesundheitlicher Beeinträchtigung oder nach Systemausfällen. Dazu gehört das erwähnte Querruderversagen, auch Instrumentenfehler durch Wasser im statischen Drucksystem. Eine Außenlandung nach Spritmangel kam ebenso vor wie ein Motorschaden mit ölverschmierter Frontscheibe.
Ein Passagier beobachtet, dass an der Tragfläche Benzin austritt, und löst den Fallschirm aus
Skurril ist ein Fall aus Jamaika, wo ein Passagier austretendes Benzin an der Tragfläche beobachtete und darauf den Schirm zog. Etliche Piloten aktivierten CAPS, nachdem sie in Wolken die Orientierung verloren hatten. Dazu gehört ein klassischer VFR-Einflug in IMC, aber auch ein Fall, bei dem sich im Abflug eine Tür öffnete und Regen in die Kabine drang. Extreme Turbulenz im Endanflug führte ebenso zum CAPS-Einsatz.
In mehreren Fällen lösten Piloten den Schirm aus, nachdem das Flugzeug Eis angesetzt hatte. Ein allein fliegender Pilot verlor das Bewusstsein – wie sich später herausstellte, war ein Hirntumor die Ursache. Er kam im steilen Sinkflug wieder zu sich und entschied sich für die CAPS-Auslösung, statt Probleme bei der Landung zu riskieren. Auch wenn manche Beobachter im Nachhinein argumentieren, dass in etlichen dieser Fälle auch ohne den Schirm ein glücklicher Ausgang möglich gewesen wäre, so fällt es schwer, etwas dagegen zu sagen, dass mit Einsatz des Schirms 48 Menschen diese Situationen überlebt haben.
Der Ausgang der Landung hängt nicht von dem Untergrund ab
Die Entwickler von CAPS gingen davon aus, dass zum einen die Wabenstruktur in den Sitzen der Cirrus und zum anderen das feste Fahrwerk den Großteil der Aufprallenergie bei einer Fallschirmlandung aufnehmen, wobei die Struktur der Maschine irreparabel belastet wird. Entsprechend gab es die Erwartung, dass der Ausgang der CAPS-Landung wesentlich vom Untergrund abhängt. Dies hat sich nicht bestätigt. Überlebende gab es bei Landungen in Feldern, Gebüsch, Bäumen und Wäldern, Berghängen, Stromleitungen und Sendemasten, auf der Straße eines Wohngebiets, in einem Kanal, einem Rückhaltebecken und der breiten Bucht eines Flusses.
Fünf Flugzeuge wurden nach der Notlandung repariert und erneut eingesetzt. Insbesondere Wasserlandungen wurden viel diskutiert, haben sich aber als vergleichsweise problemlos erwiesen, auch wenn es in zwei Fällen Rückenverletzungen durch die Wucht des Aufpralls gab. Die zwei wichtigsten Fragen aus den bisher vorliegenden Daten sind: Wie schnell und wie hoch muss man sein, damit die CAPS-Auslösung sicher abläuft?
Wie schnell?
Langsamer zu sein als die nachgewiesene Auslösegeschwindigkeit VPD (parachute deployment speed) von 133 KIAS schadet sicher nicht. Zusätzlich gibt es diese Eckdaten aus den Erfahrungen:
- 170 KIAS: Geschwindigkeit auf dem Radar im Falle des steilen Sinkflugs nach Bewusstlosigkeit des Piloten.
- 187 Knoten: Test des Fallschirms und dessen Leinen, aber nicht der Tragegurte am Flugzeug durch BRS, dem Hersteller des Systems.
- 270 Knoten: Geschwindigkeit des Radar-echos beim Auslösen über Norden, Kalifornien. Der Schirm riss vom Flugzeug ab, der Pilot starb.
Wie tief?
Was die minimale Höhe betrifft, so hängt viel davon ab, in welcher Fluglage sich die Maschine bei der Auslösung befindet: Im Trudeln ist mehr Höhe erforderlich als im Geradeausflug. Extrem ist der Fall, bei dem CAPS in IMC in Rückenfluglage in 2000 Fuß aktiviert wurde – und sich problemlos entfaltete. Die Insassen überlebten. Weitere Erfahrungswerte, was die Auslösehöhe betrifft:
- 200 Fuß: Von Zeugen geschätzte Auslösehöhe in Deltona, Florida. Die Maschine befand sich im Trudeln, der Schirm öffnete sich nicht voll. Beide Insassen starben.
- 400 Fuß: Bei der Zulassung nachgewiesener Höhenverlust bis zur vollen Schirmöffnung aus dem Geradeausflug.
- 400 Fuß: Erfolgreiches Auslösen nach Motorausfall. Der Pilot brach sich den Fuß, die Passagiere blieben unverletzt.
- 700 Fuß: Erfolgreiches Auslösen nach Instrumentenversagen in IMC.
- 920 Fuß: Bei der Zulassung nachgewiesener Höhenverlust bei Aktivierung aus 1,5 Trudelumdrehungen bis zu waagerechtem Hängen unter dem Schirm.
Die Quadratur der Energie
Auch wenn der Pilot mit dem Aktivieren des Schirms die Kontrolle über den Landeort aufgibt, spricht die Physik klar für den Fallschirm, selbst bei „landbar“ erscheinenden Fällen wie nach einem Motorausfall. Denn die Aufprallenergie steigt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit. Am Schirm sinkt eine Cirrus mit etwa 1700 Fuß pro Minute, das sind etwa 20 Knoten. Die minimale Landegeschwindigkeit dagegen beträgt 60 Knoten, also dreimal mehr. Darin steckt neunmal mehr Energie.
Nur wenn die beim Ausrollen nach und nach abgebaut werden kann, ohne dass man an einem Zaunpfahl, einem Graben, Bäumen oder anderen Hindernissen hängen bleibt, passiert nichts. Piloten, die über ein Gesamtrettungssystem verfügen, ob in der Cirrus oder einem UL, müssen sich von den eingeübten Standardverfahren etwa bei Spin Recovery, unbeabsichtigtem Einflug in IMC oder Kontrollverlust lösen und überlegen, in welchen Situationen sie den Schirm ziehen – zeitig und lieber zu oft als einmal zu wenig. Für die Unterstützung bei diesem Artikel danken wir Rick Beach, Sicherheitsexperte der Cirrus Owners & Pilots Association.
Text: Thomas Borchert, Fotos: Cirrus Aircraft (5), Christina Scheunemann
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