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Ermüdung: Sekundenschlaf am Steuerhorn
Ganz so weit muss es nicht kommen – doch der Einfluss der Ermüdung beim Fliegen wird von vielen Piloten unterschätzt. Wenn sie nach einem stundenlangen Streckenflug bei einer anspruchsvollen Landung voll gefordert sind, kann das schiefgehen.
Zweieinhalb Stunden lang ist es ohne Pause bockig: Der Mistral fegt die Mitglieder der fliegermagazin-Leserreise nach Marokko das Rhonetal hinunter Richtung Perpignan. Zwar ist die Landschaft auf dieser Strecke beeindruckend, doch das ständige Gewackel zerrt an den Nerven. Für die Piloten ist es anstrengend, ständig korrigieren zu müssen. Und nun folgt noch ein äußerst anspruchsvoller Anflug auf Perpignan: 28 Knoten Wind, in Böen 40 – immerhin genau auf der Bahn.
Eine gewisse Erschöpfung ist bei den Piloten der Gruppe deutlich zu spüren: Da werden mehrfach Funksprüche vom Tower verpasst oder schon mal links und rechts verwechselt; die Sortierung in eine vernünftige Anflugreihenfolge „flutscht“ nicht so, wie es später an anderen Zielen der Reise gelingen wird, wo der Stress-Level niedriger liegt.
Ermüdung: Schichtdienst findet man in der Privatfliegerei vergeblich
Ermüdung und Stresseinflüsse sind Faktoren, die von Privatpiloten häufig unterschätzt werden. Schließlich, so der zugrunde liegende Gedanke, fliegen sie ja entspannt in ihrer Freizeit. Doch auch dort ist Fliegen zwar nicht körperlich anspruchsvoll, aber mental fordernd – und dadurch letztlich auch physisch.
Anders als bei Airline-Piloten auf Langstrecke sind immerhin wechselnde Zeitzonen mit einer Einmot eher selten ein Problem – wenn man sich nicht solo auf den Weg über den Atlantik macht. Kollege Christof Brenner berichtet von seiner Reise nach Oshkosh (siehe fliegermagazin #9.2018), dass er sich sicherheitshalber zu jeder Tankwechselzeit einen Wecker ins Handy programmiert hatte, das mit dem Headset verbunden war und so ein laut hörbares Klingeln von sich gab. Natürlich nicht, weil er befürchten musste einzuschlafen – aber der Alarm war ein probates Hilfsmittel, den regelmäßigen wichtigen Checklistenpunkt auch wirklich nicht zu vergessen.
Wunderdroge Adrenalin: Das Aufputschmittel macht den Körper wach
Schichtdienst im beruflichen Sinne wird man in der Privatfliegerei ebenfalls vergeblich suchen. Es sei denn, man trägt die Bürde eines verschobenen Tagesrhythmus von außen in sein Hobby hinein. Dann hat man sogar eine ungünstigere Ausgangssituation als ein Berufspilot. Doch so offensichtlich ist Müdigkeit beim Fliegen nicht immer.
Auf dem Weg zum Flugplatz ist man in aller Regel noch hellwach. Die spannungsfördernden Elemente lassen keine Müdigkeit zu. Es dominiert das Adrenalin, ausgelöst durch Fragestellungen wie: Wie entwickelt sich das Wetter? Gibt es beim Preflight Check Anlass zu Beanstandungen? Hab ich an alles gedacht? Sind meine Gäste pünktlich? Was da von der Nebennierenrinde in unseren Körper hineingepumpt wird, ist ein starkes Aufputschmittel, das den Körper fit macht und den Geist wach hält. Das gilt in besonderem Maße, wenn die Vorfreude auf ein schönes Erlebnis zusätzlich durch positive Stresselemente Herz und Kreislauf auf Touren bringt.
Sofort wird in diesem Szenario klar, welchen negativen Einfluss äußerer Stress haben kann, etwa Ärger im Büro oder Streit mit dem Partner oder der Partnerin.
Entspannung: Nach dem Start fährt der Körper runter
Die Spannung endet natürlich nicht mit der Vorflugkontrolle – jetzt geht es erst richtig los. Vorläufiger Höhepunkt ist der Start, etwas gemäßigter gefolgt von der Abflugstrecke bis hinein in die Reiseflughöhe. Jetzt darf durchgeschnauft werden. So langsam normalisieren sich die Körperfunktionen mit Puls und Blutdruck. Doch jetzt entwickelt sich eine neue Situation. Wenn das vegetative Nervensystem zuvor so intensiv nach oben gefahren wurde, ergibt sich daraus natürlicherweise hinterher eine Ermüdung. Das kommt nicht so sehr zum Tragen, wenn nach kurzer Flugzeit mit begeisterten Passagieren der nicht weniger spannende Anflug mit dem Höhepunkt der Landung folgt. Dauert ein Flug aber länger, einmal quer durch Deutschland oder gar ins Ausland, versucht der Körper, in eine Entspannungsphase überzugehen. Das muss nicht gelingen: Schütteln Turbulenzen die Maschine durch, ist das Wetter für VFR-Flüge grenzwertig oder geht es nach IFR lange Zeit durch holprige Wolken, dann verstärkt sich die Erschöpfung erheblich.
Privatpiloten haben meist keinen Co, sie bewältigen alle Aufgaben des Fliegens allein. Umso mehr sollten sie sich in solchen Situationen jede Unterstützung holen, die sie bekommen können. Das Aktivieren des Autopiloten ist auf Strecke alles andere als eine Schwäche, wie immer wieder am Stammtisch behauptet wird – sondern ein kluger Umgang mit Ressourcen.
Sauerstoffsättigung: Auch bei Flügen in niedrigen Höhen zeigt die dünnere Luft ihre Wirkung
Oft rührt die Ermüdung, in der Fachsprache in einem Mix aus Englisch und Französisch Fatigue genannt, auch vom verminderten Sauerstoffangebot im Flug. Zwar schreibt der Gesetzgeber erst ab 10 000 Fuß Flughöhe Sauerstoff vor, doch Wirkung zeigt die dünnere Luft schon in geringerer Höhe. Das kann man gerade auf Nachtflügen beobachten, wenn man ab 5000 Fuß Sauerstoff anwendet: Plötzlich werden dann viel mehr Lichter am Boden sichtbar, weil die Netzhaut wieder ordentlich mit Sauerstoff versorgt wird.
Preisgünstige Pulsoximeter, die sich auf den Finger stecken lassen, erlauben heutzutage die einfache Kontrolle der Sättigung des Bluts mit Sauerstoff. Portable Sauerstoffanlagen sind aber leider nicht ganz billig.
Abweichende Routine: Emotionale Lösungen vernachlässigen oft Sicherheitsaspekte
Besonders wenn von der Routine des regulären Fliegens abgewichen werden muss, ist die Leistungseinbuße durch Fatigue spürbar. Sie betrifft vor allem Denkprozesse, die zur Lösung eines mehrschichtigen Problems mit alternativen Lösungen erforderlich sind. Da mag man unterwegs mit der Frage konfrontiert werden, ob man nach wetterbedingten Umwegen noch mit ausreichender Spritmenge am Zielort ankommt. Und falls ein Tankstopp fällig wird, ergibt sich das Folgeproblem, dass man den Heimatplatz nicht mehr rechtzeitig erreichen könnte. Und was dann?
Da findet sich in einem müden Kopf Sand im Getriebe, man dreht sich im Kreis und bleibt immer wieder auf halbem Weg der Problemlösung stecken. Die für einen solchen Fall eminent wichtige Risikoabwägung wird dann allzu leicht emotional getroffen statt rational, weil die Kapazität nicht zu einer präzisen Denkleistung ausreicht. Und emotionale Lösungen vernachlässigen leider allzu leicht Sicherheitsaspekte, weil der Wunsch, auf kürzestem Wege heimzukommen, umständliche Denkprozesse dominiert. Im Extremfall kann die Erschöpfung sogar bis in den Sekundenschlaf führen, der allerdings keine Erholung bringt.
Hohe Wachsamkeit: Im Landeanflug muss der Pilot wieder hellwach sein
Rechtzeitig zum Landeanflug muss der Pilot wieder hellwach sein – diese Aufgabe weicht von der Routine des Streckenfliegens erheblich ab und stellt höhere Anforderungen. Dann ist Vigilance gefordert, wie die Fachsprache für Human Factors die im Deutschen wohl am treffendsten Wachsamkeit genannte Eigenschaft nennt; der Zustand des zentralen Nervensystems zwischen Schlaf und höchster Alarmbereitschaft. Im Bereich um 70 Prozent der maximalen Kapazität ist die Leistungsfähigkeit am höchsten. Darüber drohen Fehlreaktionen aufgrund von Überlastung durch Stress oder auch Übermotivation aufgrund eines zu hohen Anspruchs an sich selbst.
Auch wenn man nicht „auf Vorrat“ schlafen kann, sollten gerade lange und komplexe Flugvorhaben ganz bewusst ausgeruht angegangen werden. So sollte man eine ausgiebige Nachtruhe gezielt einplanen. Dazu zählt auch, am Abend zuvor nicht ausgiebig zu feiern. Müdigkeit kann gemäß einer Studie der NASA der Wirkung von zwei bis drei Bieren entsprechen – wer würde so alkoholisiert noch fliegen?
Text: Helmuth Lage, erstmals erschienen in fliegermagazin 01/2019
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