Daimler L 15: Vom Großbomber zum Leichtflugzeug
Die Erfindung des leichten Sportflugzeugs mit geringer Motorleistung war nie
die erklärte Absicht der Daimler-Geschäftsführung. Eher ein Zugeständnis an Hanns Klemm, den hochgeschätzten Direktor des Sindelfinger Karosseriebaus.
Die Entwicklung zur Daimler L 15, die 1924 zur wegweisenden Daimler-Klemm L 20 führt, verläuft nicht geradlinig und beginnt schon 1915. Mit Flugmotoren kennt sich die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) in Stuttgart-Untertürkheim aus – mit Flugzeugen eigentlich gar nicht. Dennoch will das Unternehmen auch in dieses Geschäft einsteigen. Im Juli erwirbt Daimler von der Stadt Sindelfingen in Württemberg ein 38 Hektar großes Gelände südlich der Stadt, gleich neben dem Bahnhof.
Dort, ganz in der Nähe des Böblinger Militärflugplatzes, entsteht eine Flugzeugfabrik mit eigenem Werksflugplatz. Bei den Hallen und Hangars macht Daimler nicht auf Klein-Klein. Den Entwicklungsauftrag für ein erstes mehrmotoriges Großkampfflugzeug vergibt man aber mangels eigener Kenntnisse und Fachpersonal an die Firma Union in Teltow bei Berlin. Keine so gute Wahl – die Union-Daimler G-1 geht frühzeitig zu Bruch, was DMG ermuntert, Eigenentwicklung unter der Leitung von Karl Schopper zu betreiben.
Hanns Klemm übernimmt Leitung im Sindelfinger Flugzeugbau
Nach ernüchternden Ergebnissen mit den viermotorigen (!) Mustern R1 und R2 geht Daimler zum Lizenzbau zweimotoriger Bomber aus Friedrichshafen über. Ingenieur Schopper zeichnet auch für die wenigen Daimler-Jagdflugzeuge verantwortlich: allesamt Doppeldecker, die sich nicht sonderlich vom Angebot der effektiv arbeitenden Konkurrenten Fokker, Albatros und Pfalz abheben. Eine interessante Personalie vollzieht sich am 1. April 1918. Da nämlich übernimmt Hanns Klemm die Leitung des Konstruktionsbüros im Sindelfinger Flugzeugbau.
Klemm, Jahrgang 1885, ist ein klassischer Quereinsteiger. Der württembergische Regierungsbaumeister – Spezialist für Stahlbeton – hat schon als Statiker mit Claude Dornier und Ernst Heinkel gearbeitet. Kaum schweigen im November 1918 die Waffen, ist von einem Tag zum anderen in Sindelfingen Schluss mit dem Flugzeugbau. Im Januar ’19 fertigt man gar Schlafzimmermöbel, um ein bisschen Arbeit in der Region zu halten.
Die Daimler L 15 entsteht eher eigenmächtig
Zu diesem Zeitpunkt scheint Klemms Auftritt im Flugzeugbau bereits vorüber. Seine beiden einzigen Daimler-Militärflugzeuge, die Eindecker L 11 und L 14, sind über das Prototypenstadium nicht mehr hinausgekommen. Im Flugsport wittert Klemm nun Potenzial. Zwar dreht der Versailler Vertrag dem deutschen Flugzeugbau weitgehend die Luft ab, doch Klemm lässt sich davon nicht irritieren. Seinem Arbeitgeber verschweigt er vorsichtshalber seine Sportflug-Ambitionen, und so entsteht die L 15 wohl eher eigenmächtig, wie es heißt. Bemerkenswert: Klemm zählt bei der Typenbezeichnung Daimlers Militärflugzeuge einfach mit. Aber die L 15 ist etwas ganz anderes!
Was da im Spätsommer 1919 auf das Sindelfinger Flugfeld rollt, ist exzessiver Leichtbau. Der weit ausladende Schulterdecker hat
ein Leergewicht von unter 200 Kilo bei einer Flügelfläche von 21 Quadratmetern. Der 7,5 PS schlappe Indian-Motorradmotor bringt den Apparat zwar zum Rollen, aber nicht darüber hinaus: Eine Erdfurche lässt das Fahrwerk, das hölzerne Räder hat, kollabieren.
Hanns Klemm schwärmt vom billigen »Volksflugzeug«
Klemm muss seinem Arbeitgeber kleinlaut den Sachverhalt erklären. Die DMG befördert ihn dennoch zum Technischen Direktor des Sindelfinger Karosseriebaus; in dieser Position bleibt er bis zu seinem Abgang im Jahr 1926.
Neuen Schwung und viele Gleichgesinnte findet Klemm auf der Wasserkuppe, wo sich 1921/22 der deutsche Segelflug erfindet. Eine entsprechende Denkschrift Klemms an den Daimler-Aufsichtsrat macht genug Eindruck, um einen neuen Anlauf im zivilen Flugzeugbau zu nehmen. Klemm formuliert den Gegenentwurf zu den »stark motorisierten, so genannten Schwerflugzeugen« und schwärmt vom billigen »Volksflugzeug«.
In der Rhön gerät Klemm in ein kreatives Umfeld. Er lernt Diplom-Ingenieur Martin Schrenk kennen, der im Weltkrieg geflogen ist; jetzt segelt er in der Rhön. Schrenk wird Klemms enger Mitarbeiter für etliche Jahre. Und er fliegt die wiederhergestellte L 15 ein – ohne Motor, als Segelflugzeug. So kommt Klemms Ur-Konstruktion doch noch in die Luft. Manches daran wird geändert, etwa das allzu simple Fahrwerk und die ungeteilte Fläche. Vor allem aber ergänzt man die eigenwilligen Flügelspitzenruder um normale Querruder.
März 1924: Daimler L 15 fliegt 120 Kilometer weit
Nach all dem Gebastel stellt sich für Klemm und Schrenk zwangsläufig die Frage nach einem brauchbaren Antrieb, um den Sprung zum Motorflug zu schaffen. In Untertürkheim erhält der V-Motor einer Harley-Davidson ein Planetengetriebe, das die Drehzahl im Verhältnis 3:1 reduziert. Der gut 12 PS schwache Zweizylinder reicht tatsächlich für das Leichtgewicht. Vom Winter 1922 bis in den Sommer ’23 wird die L 15 in Böblingen und rund um Sindelfingen in der Luft getestet.
Am 30. November 1923 schnurrt Schrenk nach Untertürkheim und zum Jahresende (mit Hanns Klemm als Passagier) auf den Cannstatter Wasen – wohl um die nüchterne Daimler-Direktion zu beeindrucken. Im März 1924 fliegt die L 15 zweisitzig in zwei Stunden 120 Kilometer weit: bis ins hessische Bensheim und zurück. Zur selben Zeit sitzt Martin Schrenk schon am Entwurf der Daimler-Klemm L 20, basierend auf allen Erfahrungen, die man mit der L 15 gemacht hat. Die steht nun am Ende ihrer möglichen Entwicklung.
Klemm L 25 verhilft 1928 zum Durchbruch
In der L 20, die im Oktober 1924 fliegt, finden sich all die Eigenschaften wieder, welche die L 15 ausgezeichnet haben – nur viel eleganter verpackt und konstruktiv deutlich ausgefeilter. Ein Daimler F 7502 mit 20 PS ersetzt den Harley-Davidson-Motor, das 3:1-Planetengetriebe wird übernommen. Die L 20 ist ein großer Wurf, doch Klemm erwischt einen ungünstigen Zeitpunkt: Mitte der zwanziger Jahre denkt Daimler über die Schließung des Sindelfinger Werks nach. Den Flugzeugbau will man anderen überlassen. Unter dem Eindruck der Krise fusionieren Ende Juni 1926 die beiden Traditionsfirmen Daimler und Benz. Nur wenige Monate später, im Dezember, übernimmt Hanns Klemm den Daimler-Flugzeugbau.
Eine Handvoll Mitarbeiter folgen ihm in die Leichtflugzeugbau Klemm GmbH. Für den Anfang mietet sich Klemm die bisherige Sindelfinger Produktionshalle, bis zum Umzug ins angrenzende Böblingen. Der Rest ist Geschichte. Die verbesserte Klemm L 25 bringt 1928 den definitiven Durchbruch.
Die rückgebaute Ur-Klemm L 15, zwischenzeitlich zur L 18 modifiziert, wandert ins Deutsche Museum und baumelt dort jahrelang von der Decke der Abteilung für Historische Luftfahrt – stolz betitelt als »erstes Leichtflugzeug«. Das bedeutende Exponat geht im Bomben-
hagel des nächsten Kriegs verloren.
Text: Stefan Bartmann Foto: Daimler-Benz AG, Sammlung Bartmann
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