Unfallakte

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Cirrus SR-20: Bodenkollision in Schlechtwetter

Auf einem späten Rückflug von Polen gerät ein deutscher Pilot kurz vor dem Ziel in schlechtes Wetter. Im Sinkflug entgeht ihm ein wichtiges Detail

Von Redaktion
Foto: Cirrus Aircraft

Nach der Arbeit möchte man gerne schnell nach Hause und den Feierabend genießen. Piloten müssen sich zwar nicht mit Staus oder roten Ampeln herumärgern, doch so ganz ohne Hindernisse geht’s auch in der Fliegerei nicht. Schnell kann einem das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen. Ein deutscher Berufspilot will es am 10. Dezember 2009 gar nicht erst so weit kommen lassen. Der 50-Jährige arbeitet für ein Unternehmen am Flugplatz Strausberg nahe Berlin, das schnelle Lufttransporte anbietet.

Gegen 10 Uhr morgens hat die Firma kurzfristig noch einen Auftrag für denselben Tag bekommen: ein Gefahrguttransport mit leicht radioaktiven Substanzen zur Krebsdiagnose für ein medizintechnisches Labor in Polen. Ziel ist der Flugplatz Warschau-Babice. Der Pilot startet wenige Stunden nach der Bestätigung des Auftrags um 13.43 Uhr mit der firmeneigenen Cirrus SR20. Er hat einen Flugplan nach Sichtflugregeln aufgegeben. Zwar ist mit einer Verschlechterung des Wetters zu rechnen, mindestens für den Hinflug sind die Vorhersagen aber ausreichend für VFR.

Cirrus SR20: Gefahrguttransport nach Warschau

Ein IFR-Flug kommt aus zwei Gründen nicht in Frage: Dem Piloten fehlt dafür die Berechtigung; in der Maschine – ein älteres Modell mit Rundinstrumenten – ist der für IFR erforderliche Horizontal Situation Indicator (HSI) ausgebaut, was auch die Funktion des Autopiloten einschränkt. Die SR20 landet nach kaum zwei Stunden Flugzeit um 15.37 Uhr in Babice. Dort will der Pilot keine Zeit verlieren: Nachdem die beiden Behälter mit dem radioaktiven Material abgeliefert sind, setzt sich die Cirrus wieder in Bewegung. Ohne Pause für den Piloten und offenbar ohne aktuelle Wetterinformationen rollt der Tiefdecker nur sechs Minuten nach der Landung wieder zur Startbahn.

Bild der Zerstörung: Im flachen Winkel schlägt die Cirrus in einem Wald auf, der Pilot stirbt. Technische Probleme scheiden als Unfallursache aus (Foto: BFU)

Ein Mitarbeiter des Transportunternehmens versucht zu diesem Zeitpunkt, den Piloten telefonisch vor der aktuellen Wetterentwicklung zu warnen, die nun deutlich schlechter aussieht als die Vorhersage vor dem Start in Strausberg. Doch vergebens, der Anruf erreicht den 50-Jährigen nicht.Um 15.47 Uhr hebt der Tiefdecker von der Asphaltpiste in Babice ab und nimmt Kurs nach Westen. Offensichtlich plant der Pilot, einen Teil des Flugs in der zu dieser Jahreszeit früh hereinbrechenden Nacht durchzuführen. Im Flugbetriebshandbuch der Firmenmaschine sind Nachtflüge aber ausgeschlossen. Dennoch fliegt der Tiefdecker bei marginaler Sicht über dem nördlichen Polen der Nacht entgegen. Nur neun Minuten nach dem Start in Babice verschwindet in Strausberg bereits die Sonne hinter dem Horizont.

Der Tiefdecker startet zum VFR-Flug zurück nach Strausberg: Im Tiefflug unter den Wolken

Um 17.19 Uhr versucht der Pilot noch im polnischen Luftraum, den deutschen Fluginformationsdienst zu erreichen, doch als der Lotse nach dem Eingangsruf das Kennzeichen der Maschine zweimal wiederholt, bleibt es im Äther still. Vier Minuten später funkt die Cirrus die Flugleitung von Strausberg zur Landung an. Obwohl die Maschine bereits unter 700 Fuß gesunken ist, hat der Pilot die Piste nicht in Sicht. Er setzt den Sinkflug fort; die Wolkenuntergrenze liegt zu diesem Zeitpunkt über Strausberg bei nur 400 bis 500 Fuß, die Sicht bei fünf Kilometern. 


Kurz vorm Ziel: Es ist dunkel, es regnet aus tief hängenden Wolken, und der Höhenmesser ist falsch eingestellt. Der Flug endet im Wald (Foto: BFU)

Nur wenige Augenblicke später schlägt die Maschine rund fünf Kilometer östlich der Landebahn von Strausberg, unweit der Ortschaft Ruhlsdorf, in flachem Winkel in einen Wald ein. Der Pilot ist auf der Stelle tot. Weil der automatisch aktivierte Notsender nicht mit einem GPS-Gerät verbunden ist, sendet er keine Positionsdaten, und die Suche nach dem Wrack zieht sich über die ganze Nacht hin. Erst am folgenden Tag um 8 Uhr früh finden die Rettungsmannschaften den Absturzort, der ein Bild der Verwüstung bietet. Beim Einschlag zwischen den über zwanzig Meter hohen Bäumen wurden beide Tragflächen der SR20 abgerissen. Auch Höhen- und Seitenleitwerk wurden vom Rumpf abgetrennt. Triebwerk und Propeller liegen hinter dem Hauptwrack im aufwühlten Erdreich.

Fünf Kilometer östlich von Strausberg kollidiert die SR20 mit dem Gelände

Einen technischen Fehler oder Treibstoffmangel können die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) schnell ausschließen. Dafür rücken die Flugverfahren und die Autopsie der Leiche in den Fokus der Ermittlungen. Der Höhenmesser im Instrumentenpanel des Wracks ist noch auf 1021 Hektopascal eingestellt, offenbar der beim Start in Warschau eingestellte Wert. In Strausberg lag das QNH zum Zeitpunkt des Absturzes dagegen bei 1015 Hektopascal: ein Unterschied von 180 Fuß zwischen angezeigter und tatsächlicher Höhe. Bei extrem niedriger Wolkenuntergrenze und hohem Waldbewuchs könnte das zu einer fatalen Fehleinschätzung mit nur sehr wenig Spielraum geführt haben. Den laxen Umgang mit Vorgaben des Flugbetriebshandbuchs in Bezug auf Nachtflüge bewerten die BFU-Ermittler schlicht als „unzureichende Sicherheitskultur in dem Unternehmen“.

Keine Hilfe: Der in der Unfallmaschine installierte Notsender war aktiv, dennoch dauerte die Suche bis zum nächsten Morgen (Foto: BFU)

Überraschend ist darüber hinaus der weitere Befund der pathologischen Untersuchung, hier werden antidepressive Wirkstoffe nachgewiesen. Eines der Medikamente ist sogar in eineinhalb bis dreifacher Menge der normalen therapeutischen Dossierung feststellbar. Die Mediziner schließen aus den Werten auf eine regelmäßige Einnahme. Formal war der Pilot, hauptberuflich selbst Arzt, nach diesem Befund fluguntauglich; seinem Fliegerarzt hatte er von der Einnahme der Antidepressiva nichts erzählt.

Befund der Ermittlungen: Der SR20-Pilot war fluguntauglich

Welche Wirkungen die Medikamente tatsächlich hatten, ist nur schwer nachprüfbar. In jedem Fall ist die Liste der Nebenwirkungen lang: Benommenheit, Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit, Schlafstörungen, Schläfrigkeit, Erbrechen, Schwindel, Übelkeit, Herzrasen und Einschränkung des Reaktionsvermögens. Selbst suizidale Absichten können die Ermittler vor diesem Hintergrund nicht ausschließen, so das Ergebnis eines zusätzlichen Gutachtens des flugmedizinischen Instituts der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck. Wahrscheinlich ist dieses Szenario aber nach Meinung der BFU-Experten nicht.

Die bei Cirrus-Modellen mögliche Option, bei Orientierungsverlust das serienmäßige Rettungssystem auszulösen und am Fallschirm zu landen, war für den Unglückspiloten offenbar gar keine Option: Zwar wurde die Rakete ausgelöst, doch erst durch die Wucht des Aufschlags. Im Auslösegriff am Dach der Kabine steckte zudem noch der Sicherungsstift. Der muss laut Handbuch der Maschine beim Vorflugcheck entfernt werden, doch bei dem Strausberger Unternehmen war es wohl üblich, genau das nicht zu tun.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 9/2014

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