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Bodenkollision mit Socata TBM 700 B: VFR ohne Sicht

Bodenkollision: Ein Flug zur Messe AERO in Friedrichshafen droht ins Wasser zu fallen: Das Wetter spielt nicht mit. Die Konsequenz der beiden Piloten ist erstaunlich

Von Redaktion

Oft geraten Piloten in eine gefährliche Lage, weil sie die Gefahr nicht ahnen oder erkennen können. Umso erstaunlicher ist es, wenn die Gefahr offensichtlich ist, die Entscheidung aber ganz und gar nicht dazu passt.


Eine solche Entscheidung treffen die Piloten einer Socata TBM 700 B im Frühling 2013. Beide sind erfahren und routiniert genug, um die Maschine sicher an ihr Ziel zu bringen. Der links sitzende Pilot in Command (PIC) ist seit 20 Jahren im Besitz seiner Privatpilotenlizenz. Sie enthält die Berechtigung für IFR-Flüge und mehrmotorige Maschinen. Die Flugerfahrung des 61-Jährigen beträgt rund 750 Stunden, davon allein 150 Stunden in den letzten zwei Jahren. Auf dem rechten Platz sitzt ein Berufspilot, der den PIC in Sachen Flugerfahrung mit 3680 Flugstunden weit übertrifft. Neben den Berechtigungen für IFR und mehrmotorige Flugzeuge ist der 49-Jährige anerkannter Trainer für Crew Ressource Management.

Flug von Kiel zur AERO Friedrichshafen mit Socata TBM

Am Morgen des 26. April beginnen die Beiden ihre Tour nach Sichtflugregeln auf dem Flugplatz Kiel-Holtenau. Sie wollen an diesem Tag nach Friedrichshafen am Bodensee fliegen, um die Internationale Luftfahrtmesse AERO zu besuchen. Zwei Passagiere sind bereits in Kiel mit an Bord gekommen, zwei weitere Fluggäste sollen bei einem Zwischenstopp im niedersächsischen Rotenburg-Wümme (EDXQ) aufgenommen werden. Da für die Landung in Friedrichshafen von 10.40 Uhr bis 11 Uhr ein Slot gebucht ist, haben sich die Piloten einen strengen Zeitplan für den Flug gesetzt.

Regenradar: Bilder vom Deutschen Wetterdienst zeigen zur Zeit und in der Region, in der die Unfallmaschine unterwegs war, leichte Niederschläge und eine geschlossene Wolkendecke an (Foto: BFU)

Vor dem Start, gegen 8 Uhr, ruft der rechts sitzende Copilot einen der Passagiere an, die in Rotenburg warten, um sich nach dem Wetter vor Ort zu erkundigen. Die Antwort ist ernüchternd: Die Bedingungen für eine Landung nach Sichtflugregeln sind marginal, zudem ist mit Nieselregen und extrem schlechten Sichten zu rechnen. Als Ausweichflugplatz haben die beiden Piloten den Verkehrsflughafen Bremen in ihren Flugplan eingetragen. Eine Landung dort würde jedoch zu erheblichen Verzögerungen führen, zumal die Passagiere in Rotenburg warten. Den Slot in Friedrichshafen würde die TBM bei dieser Variante mit großer Wahrscheinlichkeit verpassen.

Sechs Minuten später startet die Turboprop von der Piste in Kiel-Holtenau und nimmt Kurs auf Rotenburg-Wümme

Um 8.30 Uhr erkundigt sich der Copilot erneut telefonisch bei dem wartenden Fluggast nach dem Wetter am Zwischenlandeplatz. Doch die Lage hat sich nicht verbessert. Ein letzter Anruf um 8.40 Uhr beim Flugleiter von Rotenburg bringt ebenfalls keine positiven Nachrichten. Den Ausweichplatz Bremen erwähnt der Copilot in keinem der Gespräche; möglicherweise spielt er gedanklich eine wesentlich geringere Rolle als im Flugplan. Sechs Minuten später startet die Turboprop von der Piste in Kiel-Holtenau und nimmt Kurs auf Rotenburg-Wümme. Vermutlich ist die Entscheidung, trotz unverändert marginaler Bedingungen dort zu landen, zu diesem Zeitpunkt bereits unausgesprochen getroffen.

Nur vier Minuten später erhält die TBM von der Flugverkehrskontrollstelle Bremen eine Freigabe für eine Linkskurve nach Erreichen von 3000 Fuß und für einen Direktflug zum Drehfunkfeuer Elbe. Kurze Zeit später hat die Maschine ihre Reiseflughöhe erreicht. Der Flug nach EDXQ ist für die schnelle Turboprop ein Katzensprung. Bereits um 9.06 Uhr bekommen die Piloten die Freigabe für den Sinkflug. Nach einem Frequenzwechsel meldet sich einer der Piloten: „Passing FL 50, descending 4000 feet, five miles final Rotenburg 08, will report ready to cancel next.“ Eine Minute später ergänzt er: „Cancelling IFR now.“ Die Maschine fliegt nun bei marginaler Sicht und aufziehendem Nieselregen den kleinen Platz nach Sichtflugregeln an. Der Lotse bestätigt um 9.12 Uhr: „IFR part is cancelled.“

Socata über Norddeutschland: Wechsel zu VFR – ohne Sicht

Mit dem VFR-Anflug beginnt für die Crew und ihre zwei Passagiere das Unheil. Acht Nautische Meilen vor der Piste nimmt der Copilot Funkkontakt mit dem Flugleiter auf. Dieser informiert ihn über die schlechte Sicht von nur zwei Kilometern und eine tiefliegende Wolkenbasis bei 500 Fuß. 


Aufprall mit hoher Energie: Niemand an Bord überlebt den Absturz der Turboprop (Foto: BFU)

Die Piloten setzen ihren Anflug dennoch bis auf 1400 Fuß MSL fort. Dann dreht die Maschine ohne weiteren Höhenverlust in eine Linkskurve auf den Kurs zum Endanflug. Um 9.15 Uhr beginnt der Pilot einen kontinuierlichen Sinkflug durch die tiefliegenden Wolken, er fliegt die Maschine sehr wahrscheinlich manuell. Vermutlich hofft er, in etwa 500 Fuß über dem Boden aus den Wolken herauszukommen und den Anflug dann mit Bodensicht abzuschließen. Doch es kommt anders. Als die Maschine die Wolken endlich durchbricht, ist der Boden bereits so gefährlich nah, dass der Pilot den Schubhebel nach vorn schiebt, um durchzustarten. Doch das Manöver kommt offenbar zu abrupt und unkoordiniert, sodass eine Roll- und Gier-Bewegung entsteht und die Turboprop nach links in Schräglage bringt.

TBM: Das Durchstartmanöver ist zu abrupt – der Turboprop gerät in Schräglage

Die linke Tragfläche kollidiert dabei mit dem Boden, dann zerschellt das Flugzeug 1,24 Nautische Meilen vor der Schwelle der Piste 08 auf einem Acker. Crew und Passagiere kommen bei dem Aufprall ums Leben, das Wrack brennt aus. Die Spuren an der Unfallstelle lassen für die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BFU) keinen Zweifel daran, dass die TBM 700 kontrolliert ins Gelände geflogen sein muss. Ein Daten- oder Voice-Recorder war nicht an Bord sodass die Ermittler mit den Radarspuren und den Daten der Flugplanung Vorlieb nehmen müssen.

Doch auch hier sind die Hinweise eindeutig: Keiner der beiden Piloten hatte eine individuelle Beratung zum Flugwetter auf der Route in Anspruch genommen. Auch beim Deutschen Wetterdienst (DWD) wurden laut Auswertung der Zugriffsdaten keine Wetterinformationen eingeholt. Dabei hätte ein Blick in die GAFOR-Vorhersage für das betreffende Gebiet ausgereicht: Für das nordwestliche Niedersachsen (Gebiet 05) ergab sich nach der 8-Uhr-Vorhersage für den Zeitraum von 8 bis 11 Uhr die Einstufung X-Ray – keine Sichtflugbedingungen.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 11/2017

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