Unfallakte

Motorkollaps und Pilotenpatzer in der Schweiz: Antonov An-2 crasht in der Umkehrkurve

Bei diesem Flug ging fast alles schief: Weil er vermutlich den Motor falsch bediente, bekam der Pilot einer Antonov-2 im Steigflug die Quittung – Triebwerkausfall. Doch damit nicht genug, es folgte ein waghalsiges Rettungsmanöver …

Von Redaktion
Eine Antonov AN-2 im Landeanflug
Eine Antonov AN-2 im Landeanflug H. G. Hamann

Ein tiefes, sattes Brummen erfüllt die Luft, das stakkatoartige Geknatter verrät: Hier verrichtet ein hubraumstarker Sternmotoren-Saurier seine Arbeit. Im Schneckentempo kriecht mit scheunentorähnlicher Silhouette die Hummel unter den Doppeldeckern an Wolken vorbei – die russische Antonov An-2 ist eines der absonderlichsten Flugzeuge, das man heutzutage am Himmel sehen kann. Die Abkürzung „An“ könnte genausogut für
Anachronismus stehen, denn als solcher muss dieser Apparat heutzutage erscheinen. Eigentlich ein Youngster unter den Oldis, wird die behäbig wirkende Wuchtbrumme vom fachunkundigen Betrachter aufgrund der Auslegung als Anderthalbdecker zeitlich gerne in den frühen Jahren der Motorfliegerei angesiedelt. Tatsächlich wurde sie aber bis in die neunziger Jahre gebaut.

Gerade sein Nostalgie-Bonus ist es, der den robusten Russen zum gern gesehenen Gast auf Airshows und zum soliden Arbeitstier für Rundflüge macht. Ein Flugzeug für Liebhaber. So wie der flugbegeisterte Privatpilot aus St. Moritz, Schweiz, der im Februar 2003 den „Anuschka Club International“ gründet. Dessen Mitglieder sollen die Möglichkeit erhalten, eine An-2 zu steuern. Dazu least man eine Maschine von einer litauischen Gesellschaft, die zudem einen 37-jährigen litauischen Fluglehrer stellt. Clubmitglieder sollen als Privatpiloten die Antonov vom rechten Sitz aus fliegen.

Die russische Antonov An-2 ist eines der absonderlichsten Flugzeuge, das man heutzutage am Himmel sehen kann

Am späten Nachmittag des 15. März 2003 ist ein derartiger Flug geplant. Nach einem 25-minütigen Trainingsflug mit Gästen kehrt die Antonov zum schweizerischen Flughafen Samedan zurück. Der Pilot reduziert für den Sinkflug die Motorleistung aufs Minimum, die Vergaservorwärmung steht auf einer Zwischenstellung. Am Gebirgsplatz steigen alle fünf Mitflieger aus und zwei Passagiere zu. Der litauische Pilot lässt den Shvetsov-Sternmotor währenddessen leicht über der minimalen Leerlaufdrehzahl rumpeln. Die Vergasertemperatur liest er mit fünf Grad Celsius ab. Gleich darauf geht es weiter. Mit blubberndem Neunzylinder steht der mächtige Doppeldecker um kurz vor halb sechs abends auf der „03“, 1800 Meter Asphalt vor sich. Mit den Klappen auf 20 Grad hebt die Maschine nach kurzem Startlauf ab, in 60 Meter über Grund fährt der Pilot die Klappen auf fünf Grad und reduziert die Triebwerksleistung.

Was mag das für ein Gefühl für einen Piloten sein, wenn das sonore Brummen des Motors von einer Sekunde auf die andere erstirbt und nur noch das Rauschen des Fahrtwinds zu hören ist? Für den Litauer wird diese Horrorvorstellung Realität: In 120 bis 130 Meter versagt das 1000-PS-Kraftpaket schlagartig seinen Dienst. Ohne Vorankündigung. Die Hand des Piloten schnellt zum Gashebel, mehrmals schiebt er ihn vor und zurück, über die damit aktivierte Beschleunigerpumpe erhält der malade Motor zusätzlichen Sprit. Keine Reaktion. Sofort drückt der mit über 3000 Stunden – davon gut 440 auf der An-2 – erfahrene Mann am Steuer das Höhenruder, um dem antriebslosen Doppeldecker lebensnotwendige Fahrt zu sichern.

In 120 bis 130 Metern Höhe versagt der Motor schlagartig den Dienst

Dann seine Entscheidung: Die Höhe reicht, also Umkehrkurve nach links, um auf der „21“ aufzusetzen. Im 140 Stundenkilometer schnellen Sinkflug leitet der Pilot die Kurve aus, rechts neben der Pistenachse versetzt. Mit einem Kurs von etwa 150 Grad nähert sich die Maschine der rettenden Bahn. Davor sind Bäume zu überwinden. Auch das gelingt dem Piloten, indem er die Landeklappen ein wenig ausfährt. Doch die Räder touchieren leicht die Wipfel. Dadurch wird die Antonov abgebremst – bis auf die Bahn, das merkt der Pilot jetzt, wird er es wohl nicht mehr schaffen. 350 Meter nach Pistenanfang und zirka 20 Meter neben der Runway setzt sich die Einmot auf die rund 40 Zentimeter dicke Schneeschicht, die Räder sinken ein, das Flugzeug überschlägt sich und bleibt auf dem Rücken liegen. Die Insassen kommen unverletzt davon, nicht zuletzt, weil sie ihre Beckengurte angelegt haben.

Noch bevor irgendein Unfalluntersucher die Antonov in Augenschein nehmen kann, lässt der Clubgründer 300 Liter Treibstoff aus den Tanks ab. Laut dem litauischen Piloten schwappten vor dem Abflug 500 Liter Sprit in den Tanks. Eine erste Besichtigung des Cockpits ergibt, dass der Gemischhebel 20 Milimeter vor dem vorderen Anschlag (armes Gemisch) und die Vergaservorwärmung 30 Milimeter in Richtung „Vorwärmung geöffnet“ stand. Die Eidgenossen holen sich für die Ursachensuche Hilfe aus Deutschland. Ein Luftfahrtsachverständiger und ein Prüfer, beide seit langem im Besitz einer Typen- und Lehrberechtigung für die An-2, sezieren im Auftrag des Büros für Flugunfalluntersuchungen den Unfallmotor. Die beiden Antonov-Profis stoßen auf eine Reihe von Nachlässigkeiten: Neben der Zulassungsurkunde fehlt an Bord des Doppeldeckers ein Flughandbuch, in dem beispielsweise Leistungsdiagramme sowie Anroll- und Startstreckentabellen stehen. Betriebszeiten und Arbeiten am Motor lassen sich nur übers Bordbuch und Motorjournal ermitteln, dabei kommen Streichungen, Neueinträge sowie mehrere geringfügige Differenzen zum Vorschein.

Die beiden Antonov-Profis stoßen auf eine Reihe von Nachlässigkeiten

Ihr Fazit der technischen Analyse des Triebwerks: An den mechanisch bewegten Teilen des Motors, am Gehäuse und den Aggregaten lassen sich keine Mängel feststellen, die zu einem plötzlichen Stillstand hätten führen können. In ihrer Beurteilung halten die schweizerischen Untersucher folgendes Szenario für wahrscheinlich: Während der Doppeldecker vom ersten Flug zurückkehrte, könnte es im Sinkflug zu einer Vergaservereisung gekommen sein. Zum Unfallzeitpunkt lag die Temperatur bei null Grad. Der Pilot hatte die Vorwärmung auf fünf Grad Celsius justiert, was für einen konstanten Reiseflug ausreichend gewesen wäre – nicht jedoch, wenn sich bereits geringfügig Eis im Vergaser gebildet hat.

Da dieser Umstand aber kaum für einen plötzlichen Motorausfall ausreicht, zogen die Untersucher zudem eine falsch eingestellte Gemischregulierung in Betracht, was sich im Nachhinein aber nicht mehr beweisen ließ. Begünstigt durch die große Dichtehöhe am Unfallort hätte es durch ein zu fettes Gemisch zum augenblicklichen Stillstand des Triebwerks kommen können. Wiederholtes Pumpen mit dem Gashebel, um dem Motor über die Beschleunigerpumpe des Vergasers zusätzlich Sprit zuzuführen, hätte das Gemisch weiter angereichert. Dass niemand an Bord zu Schaden kam, ist übrigens kein Verdienst des Piloten: Mit seiner Umkehrkurve verstieß der Fluglehrer unter den gegebenen Umständen gegen elementare Verhaltensregeln bei Motorausfall nach dem Start. Ähnliche Fälle, in denen das waghalsige Manöver Umkehrkurve tödlich ausging, füllen die Regale von Unfalluntersuchern weltweit …

Text: Markus Wunderlich, fliegermagazin 3/2005

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