Vagabunden der Luft: Mit der Boeing Stearman durch Frankreich
Die grobe Richtung steht, als sich zwei Niederländer mit ihrer Boeing Stearman auf den Weg machen nach Frankreich. Und der Rest? Der ergibt sich, wenn es soweit ist.
Sind die Schönwetterlücken groß genug? Schon lange steht der Puy de Dôme auf meiner Wunschliste: Frankreichs höchster Vulkan aus der Vogelperspektive! Auf südlichem Kurs nähern wir uns dem Puy, doch dann geraten wir am Berg in starke Turbulenzen. Die Rotoren schicken uns auf eine Achterbahnfahrt – so etwas habe ich noch nicht erlebt!
Auf der Wunschliste meines Fliegerfreunds Jaap hingegen hatte eher die Segelflug-Weltmeisterschaft gestanden, die diesmal in Montluçon stattfinden würde. Er war zweimal selbst eine WM mitgeflogen, 1970 in Texas und 1983 in New Mexico. Unsere beiden Wünsche lagen gar nicht so weit von einander entfernt – vielleicht ließen sie sich verbinden. Wir haben uns mit der Boeing Stearman auf den Weg gemacht.
Ungeplant: Wo es als nächstes hingeht entscheiden die Piloten der Boeing Stearman nach der Landung
Erst ein paar Tage zuvor hatten Jaap und ich uns entschieden, eine Tour durch Frankreich zu machen. Wir hatten beide eine freie Woche, die Wetterprognose für den Süden war gut, und nun gab es schon mal einen groben Ablaufplan für die Reise. Ansonsten wollten wir vieles ungeplant lassen – so wie in den frühen, wilden Zeiten der Barnstormer. Ich packte ein Buch eines meiner Lieblingsautoren ein: „Vagabunden der Lüfte“ von Richard Bach. Wir wollten es seinen Figuren gleichtun – einfach schöne Flüge machen und sie genießen. Und das nächste Ziel erst nach der Landung aussuchen.
An einem schönen Tag im August starten wir um die Mittagszeit von unserem Heimatflughafen Stadtlohn mit unserer Boeing Stearman in Richtung Süden. Aachen-Merzbrück scheint als erstes Etappenziel gut geeignet zu sein. Der Flugplatz ist nicht allzu groß, es gibt keine Kontrollzone, und wir können tanken. Mit der Stearman meiden wir große Flughäfen: In der offenen Maschine ist Funken schwierig, die Verständigung klappt nicht immer gut. Noch problematischer wird es dann in einer Fremdsprache wie Englisch oder Französisch – oder gar in „französischem Englisch“. Daher bevorzugen wir kleine Plätze, möglichst mit Graspiste – sowas mag auch die Stearman am liebsten, denn dafür ist die mittlerweile 82 Jahre alte Maschine gemacht.
Keine Antwort: In Verdun gibt es seit Tagen keine Elektrizität mehr
Von Aachen wollen wir weiter nach Verdun. Wir erledigen die Formalitäten für den Grenzüberflug und geben den Flugplan auf. Das mit dem Funken erweist sich im Anflug auf Verdun als einfach: Es ist schlicht keiner da, der antworten könnte.
Unseren Flugplan schließen wir nach der Landung per Handy. Der Flugplatz von Verdun wirkt sehr verlassen und heruntergekommen. Wie wir später erfahren, gibt es seit Tagen keine Elektrizität mehr. Und damit auch keinen Sprit für den nächsten Tag: Die Tanke ist „inop“.
An den Gebäuden erkennt man noch Einschläge von Projektilen
Übers Internet haben wir Hotelzimmer in der Stadt reserviert, ein Pilot am Platz nimmt uns freundlicherweise in seinem Auto mit ins Zentrum. Schon beklemmend: An fast allen Mauern der älteren Gebäude sieht man noch Einschläge von Projektilen. Die Schlacht um Verdun zwischen Deutschland und Frankreich war eine der längsten und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs, sie begann am 21. Februar 1916 mit einem Angriff deutscher Truppen und endete erst am 19. Dezember desselben Jahres. Heute steht sie allgemein als Symbol für die Sinnlosigkeit von Kriegen.
Den Abend verbringen wir an der Meuse. Am Hafen des Flusses lernen wir ein Paar aus Holland kennen, das auf einem alten Schlepper von 1923 sitzt. Sie laden uns ein, an Bord zu kommen, und erzählen von ihrer Reise. Die beiden sind in Holland gestartet und wollen in zwei Monaten durch Frankreich und Deutschland. Pro Tag schafft der Kahn etwa 55 Kilometer, doch nun müssen die Schiffer eine Woche auf ein Ersatzteil warten. Es wird ein gemütlicher Abend mit Gleichgesinnten und Geschichten über historische Fahrzeuge – Schiff und Doppeldecker.
Beeindruckende Ausstellung: Zu Besuch im Museum des ersten Weltkriegs
Im Anflug auf Verdun hatten wir das große Monument bei den Kriegsgräbern gesehen. Dort gibt es auch ein Museum über den Ersten Weltkrieg, das wir am nächsten Morgen besuchen. Die Ausstellung ist beeindruckend: Wir sehen historische Filme, Waffen, Fahrzeuge und sogar Doppeldecker. Auch Kuriositäten sind darunter, etwa eine Posttaube mit einer kleinen Kamera am Bein – der Vorläufer heutiger Drohnen?
Von Verdun aus steuern wir Bar-le-Duc an. Die Stadt ist bekannt für ihre Quellen und ihr Mineralwasser. Doch vorher wollen wir das Mahnmal in Verdun noch mal überfliegen. Wir sind tief bewegt. Wenn man sich vorstellt, was vor etwas mehr als 100 Jahren hier stattgefunden hat …
Kurzer Überflug: Start und Zielflugplatz liegen kaum eine halbe Stunde auseinander
Der Flug mit der Boeing Stearman über die Ardennen ist kurz, Start- und Zielflugplatz sind kaum eine halbe Stunde voneinander entfernt. Als wir bei der Reiseplanung die Luftfahrtkarten von Frankreich studiert hatten, war uns fast schwindelig geworden, so viele Flugbeschränkungsgebiete sind darin verzeichnet. Doch sie sind selten aktiv. Der größte „Freiraum“ besteht unterhalb von 800 Fuß, und so sind wir dann auch meist nicht viel höher als in 500 Fuß unterwegs.
Leider gibt es in Bar-le-Duc zwar erfrischendes Quellwasser, aber ebenfalls keinen Sprit. Ein Pilot, der nach uns landet, weiß aber, dass in Avallon Benzin zu bekommen ist.
Augen auf: Auf dem Kurs liegen hohe Funkmasten
Wir genießen es, tief über der hügeligen Landschaft mit Kurs auf Avallon dahinzufliegen. Die kleinen Dörfer und Städtchen wirken aus der Luft verschlafen, als würde die Zeit hier stillstehen. Wir allerdings müssen hellwach sein, denn auf Kurs stehen einige hoch aufragende Funkmasten, durchaus höher als 500 Fuß über Grund, und unsere Navigations-App SkyDemon hat sie nicht auf dem Schirm.
In Avallon können wir tatsächlich tanken. Hier entscheiden wir uns, nach Moulins Montbeugny weiterzufliegen. Damit wären wir schon mal in der Nähe von Montluçon und des Puy de Dôme. In Moulins erkundigen wir uns, ob es möglich ist, am nächsten Tag auf dem Gelände der Segelflug-WM zu landen. Der Flugleiter ruft seinen Kollegen in Montluçon an: Wir sind willkommen, sofern wir es schaffen, vor 8.15 Uhr da zu sein. Danach ist der Platz für die WM reserviert. Klingt doch großartig – genau so hatte Jaap sich das vorgestellt. Den Abend verbringen wir in Montbeugny, einer sehr schönen alten Stadt.
Morgennebel: Ein Teil der zwei Kilometer langen Piste ist frei
Als wir kurz nach Sonnenaufgang um 7.15 Uhr mit der Boeing Stearman starten, ist noch niemand am Platz. Die Morgenstimmung ist traumhaft. Nach etwa 45 Minuten erreichen wir Montluçon, doch der Anflug wird spannend, denn am Boden hält sich noch Morgennebel. Zurückfliegen? Dann können wir das Zeitfenster vergessen! Wir sehen, dass ein Ende der fast zwei Kilometer langen Piste höher liegt als das andere und frei von Nebel ist – zum Landen wird der Abschnitt auf jeden Fall ausreichen. So ist es auch. Wir rollen aus und parken vor dem Tower.
Da eilt der WM-Direktor erbost zu uns und schimpft, was wir uns dabei nur gedacht hätten. Der Platz sei geschlossen, und dann tauchen wir plötzlich aus dem Nebel auf! Doch wir können beweisen, dass wir tags zuvor eine Zusage erhalten haben. Jaap kennt zum Glück die holländischen Organisatoren der WM, und es gelingt ihm, die Sache zu klären. Alles wieder gut. Das erste Ziel unserer Reise ist erreicht: Wir können uns die WM anschauen.
Enttäuschendes Wetter: Mehrere Wertungstage sind bereits ausgefallen
Bislang war das Wetter für einen Wettbewerb enttäuschend, mehrere Wertungstage sind schon ausgefallen. Als wir dem Briefing lauschen, erfahren wir, dass es nun besser werden soll. Leider zeigt sich auf unserer nächsten Etappe in Richtung Puy de Dôme, dass wir falsch liegen. Am Puy dann der wilde Ritt durch die Turbulenzen. Zum Glück ist die Stearman sehr robust gebaut, sie verkraftet einiges. Mir fällt der Buchumschlag der „Vagabunden“ ein, der eine kopfüber abtauchende Stearman zeigt. Auf dem nächstgelegenen Flugplatz wollen wir runter.
Clermont-Ferrand … Nein, zu groß und Linienverkehr. Issoire le Broc? Über dem Platz sehen wir dann, dass die Piste unter Wasser steht. Also weiter, und noch immer werden wir ordentlich durchgeschüttelt. Wir erreichen Brioude Beaumont – sieht gut aus. Wir landen, und ich muss sagen: Selten war ich so froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Turbulente Bedingungen: Zum Glück ist die Stearman robust gebaut
Wir lernen Hervé kennen, einen Piloten, der staunend in seinem Hangar steht und sich wundert, dass jemand bei diesem Wetter fliegt. Er hilft uns, einen Abstellplatz zu finden, leider nur im Freien. Doch es soll bloß regnen, Hagel ist nicht in Sicht. Hervé fährt uns in die Stadt zu einem Hotel, wo er uns morgen auch wieder abholen wird. Die Lee-Rotoren, erfahren wir von ihm, sind heute mit Geschwindigkeiten von über 100 km/h gemessen worden. Und genau da sind wir hineingeflogen … ! Den Abend verbringen wir in der wunderschönen Altstadt von Brioude, die uns mit ihrem mittelalterlichen Flair verzaubert.
Der zweite Anlauf: Aufbruch zum Puy
Der nächste Morgen begrüßt uns mit fabelhaftem Wetter. Aus Dank für seine Hilfe lade ich Hervé ein, mit mir eine Runde zu drehen. Er genießt den Flug mit der Stearman in vollen Zügen, ein Traumflug, wie er sagt.
Wir brechen auf, noch einmal zurück zum Puy. Der 1465 Meter hohe und nicht mehr aktive Vulkan ist der höchste Berg in einer Kette von Vulkanen. Schon in der Antike hat sein Gipfel die Menschen inspiriert, Tempel und Gotteshäuser zu errichten. Da oben gibt es noch Überreste eines Merkur-Tempels aus der Römerzeit. Aus der Luft sehen wir, wie viele Krater über die Region verteilt sind. Eine wundervolle Landschaft, die wir heute bei ruhigem Wetter genießen können.
Langer Reiseabschnitt nach Reims: Auf der Strecke reiht sich ein Schloss an das nächste
Wir steuern erneut Moulins an, um dort vollzutanken und unseren nächsten Reiseabschnitt zu planen. Der soll uns nach Reims führen, ein längerer Flug von ungefähr zwei Stunden – unsere Endurance liegt bei zweieinhalb Stunden plus Reserve. Und so fliegen wir vom Puy de Dôme zum Dôme du Reims.
Je näher wir der Stadt kommen, desto mehr Weinberge erkennen wir. Hier ist das also, wo die Trauben für den exklusiven Champagner angebaut werden. Und ein Schloss reiht sich ans nächste. Reims hat einen sehr gepflegten Flugplatz, auch die Stadt selbst ist überaus sauber und geradezu herausgeputzt. Man ahnt, dass sie eine Visitenkarte für die großen Champagner-Häuser wie Taittinger, Moët & Chandon und weitere ist. Im Zentrum besichtigen wir das Wahrzeichen der Stadt, die Cathédrale Notre Dame de Reims. Die Kirche stammt aus dem 13. Jahrhundert, sie ist eines der wichtigsten gotischen Bauwerke der Grande Nation. Verschiedene Könige wurden hier gekrönt, so auch Karl der VII., bei dessen Inthronisierung 1429 die legendäre Jeanne d’Arc zugegen war, auf dem Zenit ihres Ruhms. Nicht zuletzt gilt das Bauwerk als die Kathedrale der Engel – einer von ihnen wurde als das „Lächeln von Reims“ bekannt.
Der Weg ist das Ziel: Insgesamt haben die Reisenden 1800 Kilometer in 14 Stunden zurückgelegt
Kein Wunder, dass sich in Reims die Touristen tummeln. Eine lange Straße mit Restaurants ist vollkommen überlaufen. Pandemie? Zunächst deutet nichts darauf hin. Doch ohne Impfnachweis und QR-Code für die Nachverfolgung bei Ansteckung gibt es nicht mal eine Scheibe Baguette.
Auf dem Rückweg nach Stadtlohn legen wir einen Tankstopp in Belgien ein, in Spa. Nach fünf ereignisreichen und spannenden Tagen landen wir schließlich wieder im Münsterland. Wir sind begeistert von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Leute, die wir getroffen haben. Insgesamt haben wir 1800 Kilometer zurückgelegt, Flugzeit: knapp 14 Stunden. Trotz unserer mäßigen Französischkenntnisse konnten wir uns prima verständigen. Und wie immer, wenn wir mit der Stearman unterwegs sind, war der Flug das eigentliche Ziel.
Text & Fotos: Thomas Fassin
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