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Kitty Hawk und die Outer Banks, USA: Reise zu den Wurzeln der Fliegerei mit Cessna 172
Die Brüder Wright suchten nach unverwirbeltem Wind für ihre Flugversuche – und den gibt es auf den Atlantik-Inseln des US-Bundesstaats North Carolina reichlich. Für Piloten ist die Reise zu den Wurzeln der Fliegerei eigentlich Pflicht
Outer Banks? Viel Spaß in Australien!“, hören wir, als wir unser Reiseziel verraten. Der seltsame Ortsname klingt nach Outback und Kängurus. Die wenigsten kennen den Film „Das Lächeln der Sterne“ mit Richard Gere und Diane Lane – er spielt auf jenen „äußeren Sandbänken“, der Inselkette in North Carolina. Die zauberhafte Landschaft liegt etwa auf halbem Weg zwischen New York und Miami, südlich von Norfolk; dort, wo die Küste einen kühnen Bogen Richtung Atlantik zieht. Und selbst die wenigsten Piloten wissen, dass ein allen Fliegern bekannter Ort mitten auf den Outer Banks liegt: Kitty Hawk, wo Orville und Wilbur Wright 1903 die ersten kontrollierten Motorflüge machten.
Für Europäer ist die US-Hauptstadt Washington der beste Ausgangspunkt für eine Reise auf die Outer Banks. Zwar dauert die Autofahrt von dort sechs Stunden, aber dafür spart man das Umsteigen innerhalb der USA. Über Richmond, Virginia, geht es auf gut ausgeschilderten Highways am Marinestützpunkt Norfolk vorbei nach Süden.
Beste Wind-Bedingungen: Die Wurzeln der Fliegerei in South Carolina, USA
Die Outer Banks sind eine 300 Kilometer lange Kette Ostfriesischer Inseln auf Amerikanisch: ohne Watt, aber mit viel Atlantikstrand; ideal zum Surfen und Angeln. Sie erstrecken sich von der Nordostspitze North Carolinas bis zum Pamlico Sound, einem flachen, grün-bläulich leuchtenden Binnenmeer. Da wären, von oben nach unten: Bodie Island, Roanoke Island, Hatteras, Ocracoke und Portsmouth. Lange Brücken mit spektakulärer Aussicht auf Schilf und Strand führen an einigen Stellen im Norden vom Festland herüber. Und der North Carolina Highway 12 verbindet Inseln und schmale Sandbänke vom Norden bis Hatteras Island im Süden. Von dort aus geht es mit einer kostenlosen Fähre weiter nach Ocracoke. Portsmouth ist als Tagesausflugsziel per Boot zu erreichen.
Das Wichtigste zuerst: Kitty Hawk liegt auf Bodie Island. Die Fahrradmonteure Orville und Wilbur Wright aus Dayton im recht weit entfernten Bundesstaat Ohio begannen 1896 Fluggeräte zu entwerfen. Drei Jahre später war ihr erster Doppeldecker fertig, und die Wrights benötigten ein Testgelände mit so viel Wind wie möglich – und mit wenig Bewuchs. Unter den Empfehlungen des US-Wetteramts erschien ihnen das Dorf Kitty Hawk am besten geeignet. Der Sand der Dünen, so meinten sie, würde eventuelle Abstürze mildern. Der Kill Devil Hill, eine große Wanderdüne in der Nähe, wurde ihre Basis. Die Flugversuche begannen im Oktober 1900 mit Segelflugzeugen und Drachen. Das Besondere an den Wright-Flugapparaten war die Steuerbarkeit um alle drei Achsen, die uns heute selbstverständlich erscheint.
Das Besondere der Fluggeräte: die Steuerbarkeit um alle drei Achsen
In den folgenden drei Jahren machten sich die Wrights immer wieder auf die beschwerliche Reise zu den entlegenen Inseln, wo sie in einem primitiven Schuppen hausten. Am 17. Dezember 1903 gegen 10.30 Uhr schlug dann die große Stunde des Flyers. Der Urvater aller Motorflugzeuge war ein Doppeldecker mit 12,30 Metern Spannweite. Orville Wright steuerte das Gerät, auf der Fläche liegend, zwölf Sekunden lang durch die Luft. Er flog bis zu 20 Fuß hoch und 37 Meter weit. Die Brüder machten noch drei weitere Flüge. Seit diesem Tag ist Kitty Hawk der Heilige Gral des Motorflugs.
Heute steht am historischen Ort das Wright Brothers National Memorial. Der Kill Devil Hill wanderte bis zur Einrichtung des Nationalparks einige hundert Meter nach Süden, heute ist er befestigt. Auf der Spitze steht ein beeindruckendes 18-Meter-Granitmonument. Neben einem Museum mit dem Nachbau des Flyers und ein Arrangement, das den Moment zeigt, in dem das berühmte Foto vom ersten Flug aufgenommen wurde, stehen Nachbildungen der zwei Schuppen der Wrights. Etwas entfernt liegt der Ort des Geschehens: Im Sand sind die Strecken der vier Flüge mit Gedenksteinen markiert. Es waren Hüpfer, mehr nicht – aber sie haben die Welt verändert.
Einmaliges Gefühl: an der ersten Runway der Welt zu stehen
Die Stimmung ist magisch, der Wind pfeift über den sonnenbeschienenen Rasen bis zum First Flight Airstrip, dem kleinen Flugplatz gleich nebenan. Es gibt nur einige abgestellte Maschinen und eine Flugvorbereitungshütte. Wir laufen den langen Weg zum Kill Devil Hill hinauf. Der Legende nach heißt er nach einem früher in dieser Gegend getrunkenen, grottenschlechten Rum aus Neuengland. Uns wärmt die Nachmittagssonne, als wir am Monument ankommen. Der perfekte Augenblick: Die letzten Besucher verlassen das Gelände, wir genießen die Ruhe und den ungehinderten Blick. Es ist ein einmaliges Gefühl, hier an der ersten Runway der Welt zu stehen.
Dies ist der Geburtsort des Motorflugs, der Ursprung aller Graspisten und Mega-Airports. Die Stille und Bescheidenheit des Orts sind wohltuend. Dies ist ein Flugplatz, man fühlt sich zu Hause. Schwer beeindruckt laufen wir den Hügel hinab. Dann fahren wir weiter nach Süden. Frische Luft, Strände, Dünen, Feuchtgebiete und über 400 Vogelarten: Auf den Outer Banks freuen sich Naturliebhaber, Schwimmer, Surfer, Angler, Freunde von Meeresgetier und Heiratswillige, denen zahlreiche Wedding Services himmlische Dienste versprechen.
Geburtsort des Motorflugs, der Ursprung aller Graspisten und Mega-Airports
Nur Extrem-Shopper sollten sich ein anderes Urlaubsziel suchen, denn nach großen Einkaufszentren sucht man vergebens. Im Norden auf Bodie Island geht es touristisch zu; die Mitte und der Süden sind einsamer und genau richtig für romantische Strandspaziergänge. Autos dürfen bis ans Wasser fahren, sofern sie sich an bestimmte Regeln halten. Das Festland ist bis zu 50 Kilometer entfernt, der schmale Streifen Insel unter dem einsamen Highway 12 streckenweise nicht mal 200 Meter breit. Am südöstlichsten Punkt, beim Cape Hatteras, ist man schon weit draußen im Ozean.
Die besten Reisezeiten zum Ausspannen sind Frühsommer und Herbst; im Sommer wird es voll. Die Hurrikan-Saison im Frühherbst sollte man nicht unterschätzen: Nach „Isabel“ war die Insel Hatteras 2003 zweigeteilt und musste von der Armee „geflickt“ werden. Ocracoke ist eine verträumte Künstlerinsel, im Café Atlantic kann man sehr gut speisen. Die Cafés und Restaurants auf den Outer Banks sind zünftig. „Dolphin Den’s“, „Froggy Dog“ oder das „Atlantic Coast Café“ bieten zu vernünftigen Preisen anständiges Essen; im vornehmen „Inn on Pamlico Sound“ in Buxton kann man die fantastischen Sonnenuntergänge vom Garten aus beobachten.
Viele der großen Strandhäuser lassen sich mieten – in der einsamen Gegend um Rodanthe auf Hatteras Island ist das besonders zu empfehlen. Dort steht, von den Fluten fast weggerissen, auch das Film-Haus von Richard Gere. Auf der Jagd nach einem Ferienhaus hilft eines der zahlreichen Immobilienbüros, die in der Hand weniger Familien sind. Hier kennt jeder jeden; wer als Tourist etwas braucht, wird prompt an einen Verwandten oder dessen Kumpel verwiesen – ganz egal, ob es um die Blumenhändlerin, den Standesbeamten, den Besitzer des Kramladens oder einen Piloten für Rundflüge geht.
Wir nehmen den Flugzeugbesitzer einfach in seinem eigenen Kleinflugzeug mit
Genau den suchen wir – denn statt uns mit komplizierten Formalitäten bei Lizenzanerkennung und Checkflug für Charterer aufzuhalten, werden wir den Flugzeugbesitzer einfach mitnehmen. Vorne links sitzen und selbst fliegen ist nach den US-Vorschriften kein Problem; jeder Fluglehrer lässt sich darauf ein, wenn man sich als Pilot ausweist. Es gibt auf den Outer Banks vier öffentliche Plätze. Den erwähnten First Flight Airstrip (ICAO-Kürzel KFFA), nicht weit entfernt auf Roanoake Island den Manteo/Dare County Regional Airport (KMQI), weiter südlich auf Hatteras Island das Billy Mitchell Field (KHSE) und auf Ocracoke den unbemannten Strip W95 direkt am Strand.
Wir fliegen mit Dwight Burrus von KHSE aus. Er ist Anfang 60 und ein typischer Insulaner aus Buxton auf Hatteras Island: sonnenverbrannter Schädel, zerzauste Haare und Fusselbart, coole Brille, stets in kurzer Hose und Polohemd. Mit seiner schönen rot-weißen Cessna 172 fliegt er Touristen herum, „das macht die Ferien erst schön.“ Auf der Sammelfrequenz 122,9 MHz herrscht erwartungsgemäß Stille, als wir los rollen. Die Bahn 07 liegt auf einer fünf Meter hohen Düne am Strand. Platzrunden werden nördlich in 1000 Fuß geflogen, der umgebende Nationalpark sollte nicht unter 2000 Fuß überquert werden.
Dwight fliegt in den Ferien Touristen in seiner Cessna 172
Dwight hat drei Lieblingsrouten: nach Norden mit dem Pamlico Sound Riff und Schiffswracks, entlang Cape Hatteras und Richtung Süden, nach Ocracoke Island, mit wilden Ponies und einem Blick auf die verlassene, mückenverseuchte Nachbarinsel Portsmouth. Wir buchen das Rundum-Paket und staunen über die weißen Strände voller Sportangler. Im Pamlico Sound mit seinen seltsamen Stelzenhütten ist das Wasser so flach, dass Fischer waten können. Dwight dreht eine Ehrenrunde um sein Lieblingsziel, den 63-Meter-Leuchtturm von Cape Hatteras. „Der höchste im Land“, erklärt er und zeigt auf ein kreisrundes Fundament am Strand.
Dort stand der Turm bis 1999, als er zum Schutz vor Überflutungen Stein für Stein abgebaut und landeinwärts verlegt wurde. Das Cape Hatteras Lighthouse ist das Wahrzeichen von North Carolina. Seit über hundert Jahren warnt es vor den tückischen „Diamanten-Untiefen“ – flachen Sankbänken, die sich 14 Meilen ins Meer ausdehnen. Eigentlich sollte der Leuchtturm auch ein diamantenförmiges Warnsymbol tragen. Doch versehentlich bekam das benachbarte Cape Lookout Lighthouse diesen Anstrich – und der Leuchtturm von Cape Hatteras dessen spiralförmige Bemalung.
Wir überfliegen Schiffswracks, die den Sandbänken zum Opfer gefallen sind
Wir überfliegen Wildpferde, als hätte Dwight sie extra für uns bestellt. Und ein Schiffswrack, das ganz in der Nähe von Cape Hatteras Lighthouse wie zufällig aus dem Strand lugt. „Mehr als 1000 Schiffe sind in den vergangenen 450 Jahren durch Untiefen und tückische Strömungen verloren gegangen“, erzählt unser Pilot. „Darum werden die Outer Banks auch der Friedhof des Atlantiks genannt“. Die Wracks sind auf der Touristenkarte im Stecknadel-Abstand verzeichnet – ganz schön gruselig.
Auf dem Instrumentenbrett der Cessna klebt eine Visitenkarte. „Dwight & Dianne Burrus, Preachers & Pilots“ ist zu entziffern, darunter „Straighten up and Fly Right.“ Der Pilot und seine Frau sind Prediger und Flieger. Ihr Motto (frei übersetzt „Bleib aufrecht und flieg sauber“, ein Song von Nat King Cole aus dem Jahr 1943) passt bestens zur Geburtsstätte der Motorfliegerei.
Text und Fotos: Rolf Stünkel, fliegermagazin 6/2010
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