REISEN

/

Cessna 172: Mit dem Kleinflugzeug nach Longyearbyen, Spitzbergen

Einmal ganz in den hohen Norden – das ist der Plan
 zweier Cessna-Piloten. Mit ihrer „172“ fliegen sie Ende Mai
 von Deutschland nach Spitzbergen

Von Redaktion

Bis ans Nordkap waren Bernd Tünsmeier und ich bereits mehrmals gereist. Mit jeder Tour dorthin wuchs in uns der Wunsch, noch etwas weiter zu fliegen, das Neue hinter dem Horizont zu erkunden und Spitzbergen „zu knacken“ – mit einem einmotorigen Kolbenmotorflugzeug, einer Cessna 172SP.

Ohne gründliche Vorbereitung ist ein Flug in diese Region nicht zu machen, soviel steht fest. Dabei spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Kälte und Wasser. Longyearbyen, die größte Siedlung auf Spitzbergen, liegt auf 78 Grad Nord. Ein Flug dorthin ist ein Flug in die hohe Arktis, in der es auch im Sommer für unsere Verhältnisse winterlich kalt ist. Von Nord-Norwegen nach Spitzbergen geht’s zudem rund 1000 Kilometer über eiskaltes Wasser. Es schadet also nicht, sich vorab die Theorie der Notwasserung ins Gedächtnis zu rufen und die entsprechende Ausrüstung mitzuführen. Das sind nicht nur Schwimmwesten und ein Rettungsfloß, sondern vor allem Überlebensanzüge.


Scheue Schönheit: Die Bäreninsel zeigt sich erst auf dem Rückflug lang genug für ein Foto
(Foto: Günther Schönweiß)

Ebenfalls mit im Gepäck: ein Satellitentelefon, für den Notfall wasserdicht eingeschweißt, dazu diverse Seenot-Signalmittel und ein Personal Locator Beacon (PLB) pro Person. Neben einem perfekten Wetterbriefing sind Luftfahrtkarten in elektronischer Form und auf Papier wichtig (AIPs von Dänemark, Norwegen und Schweden gibt es kostenlos im Internet; Luftfahrtkarten von Spitzbergen erhält man vom norwegischen Polarinstitut unter www.npolar.no). Ein empfehlenswertes ICAO-Dokument für Piloten, die über dem Nordatlantik unterwegs sind, heißt „Guidance and Information Material Concerning Air Navigation in the North Atlantic Region“. Man findet dieses und andere „NAT-Docs“ im Internet unter www.paris.icao.int.

Nach so viel Vorbereitung und mit der erforderlichen Genehmigung für den Flug nach Longyearbyen (ENSB) in der Tasche, starten wir endlich Ende Mai 2011. Wir fliegen von Bad Neustadt/Saale (EDFD) zuerst nach Schönhagen (EDAZ), für eine eingehende Prüfung und Wartung unserer Cessna. Bereits am nächsten Tag geht es weiter nach Visby (ESSV) auf Gotland in Schweden.


Mit dem Privatflugzeug 1000 Kilometer über eiskaltes Wasser

Von der Hansestadt Visby mit ihrer wunderschönen Altstadt, den verwinkelten Gassen und der Stadtmauer brechen wir am nächsten Tag bei nicht ganz so guten, aber fliegbaren Wetterbedingungen auf nach Luleå in Nordschweden. Wir wollen in Sundsvall (ESNN) zwischenlanden und tanken, doch als auf keiner der Platzfrequenzen eine Antwort kommt, fragen wir vorsichtig bei Sweden Control nach, ob wir etwa ein NOTAM übersehen hätten. Kurze, freundliche Antwort: Nein, das sei schon in Ordnung. Der Platz sei nur derzeit nicht besetzt, und wir mögen bitte landen, den Tankautomaten benutzen, mit Kreditkarte zahlen und weiterfliegen. Sobald wir wieder airborne seien, sollten wir uns erneut bei „Sweden“ melden – so einfach kann das alles sein. Nach unserem Tankstopp fliegen wir weiter über Umeå (ENSU) nach Luleå (ESPA).

Am folgenden Tag verlassen wir den Bottnischen Meerbusen und steuern Alta (ENAT) in Nord-Norwegen an, die Ausgangsbasis für den „großen Sprung“, für den wir unsere Cessna bereits zuhause modifiziert hatten. Mit einer ausfliegbaren Menge von 200 Litern Sprit hat die D-EYGS bei einem Stundenverbrauch von 30 Litern bereits serienmäßig eine Endurance von sechs Stunden. Theoretisch reicht das für den Flug vom norwegischen Festland nach Spitzbergen, doch uns war das zu eng. Also Rückbank raus und einen „Turtlepac“-Zusatztank mit 100 Litern Inhalt rein. Die Avgas-Verfügbarkeit hat sich in Nord-Norwegen verschlechtert: An kleineren Plätzen wie Hammerfest und Honningsvåg ist kein 100LL mehr zu haben, zum Auftanken muss man nach Tromsø oder Alta ausweichen. Auch in Longyearbyen gibt es nur Jet-A1. Man muss also rechtzeitig vorher Avgas bestellen, bezahlen und hinbringen lassen. Das organisiert man über die Firma AVINOR AS, den größten Eigentümer und Betreiber norwegischer Flugplätze.

Geht doch! Bernd Tünsmeier in voller Montur und bereit für den Rückflug mit der Cessna 172SP
(Foto: Günther Schönweiß)

Generell ist die Infrastruktur überall perfekt, und vor allem auf den kleinen Plätzen im Norden Norwegens herrscht eine geradezu familiäre Atmosphäre: Nach der Landung darf man stets mit einer Einladung zum Kaffee auf den Tower rechnen. Man wird hier sehr herzlich und hilfsbereit aufgenommen – ein sehr wohltuender Kontrast zu dem, was man bei uns manchmal erlebt. Wir warten vier Tage in Alta auf perfektes Wetter. Um den Weiterflug zu wagen, ist die meteorologische Flugfreigabe wichtig; die Flugwetterberatung in Norwegen kostet übrigens nichts. Schon ein Jahr zuvor wollten wir nach Spitzbergen, hatten aber zu wenig Urlaubstage eingeplant, um die Wartezeit zu überbrücken. Schönes Wetter in Alta und am Nordkap täuscht leicht darüber hinweg, dass es über dem Meer und 1000 Kilometer weiter nördlich ganz anders aussehen und sich schnell verändern kann. Von CAVOK bis Starkregen mit Sturm und tiefen Untergrenzen muss keine Stunde vergehen.

Wir unternehmen ein paar schöne lokale Flüge und reisen mit einem Mietwagen auf dem Landweg zum Nordkap. Sensationell ist der sieben Kilometer lange Nordkaptunnel, der 200 Meter unter der Erde das Kap mit dem norwegischen Festland verbindet. Im Kåfjord lag im Zweiten Weltkrieg das gewaltige Schlachtschiff Tirpitz zeitweise vor Anker – heute erinnert hier ein Museum an den Stahlgiganten. Nicht zu vergessen: der köstliche Frischfisch, von dem wir uns reichlich bedienen.

Mit Rückenwind auf FL65 gen Nord-Norwegen

Endlich geben die Meteorologen grünes Licht und wir unseren Flugplan auf. Nach den Vorflug-Checks ziehen wir unsere „Raumanzüge“ an: Los geht’s! Anfänglich ist es wolkenlos, und wir steigen mit einer leichten Rückenwindkomponente zunächst auf Flight Level 55, später auf FL 65. Etwa auf halbem Weg zwischen Nordkap und Spitzbergen liegt die Bäreninsel in der Barentssee. Sie ist eine scheue Schönheit, die sich meist im Nebel verhüllt. Wir fliegen über einer zunehmend geschlossenen Wolkendecke, die sich jedoch kurz öffnet, als wir genau über der Insel sind. Doch dann beeilt sich die Schöne, sich mit einem bis auf das Meer herunterreichenden Nebelvorhang zu umgeben, was uns zum Wiederaufstieg zwingt. In dieser Region, so vermutet man, stürzte der norwegische Polarforscher, Pilot und Nationalheld Roald Amundsen im Sommer 1928 auf dem Flug nach Spitzbergen ab; er blieb bis heute verschollen.

Heißes Pflaster: Longyearbyen ist der Verwaltungssitz von Spitzbergen. Wer zu Fuß die Stadt verlässt, braucht ein großkalibriges Gewehr – wegen der Eisbären
(Foto: Günther Schönweiß)

Über fünfeinhalb Stunden dauert das letzte Leg bis zu unserem Traumziel. Je näher wir kommen, desto mehr spüren wir die Botenstoffe des „Spirit of Aviation“ – Glückshormone pur. Alles was wir mit Spaß tun, schafft Befriedigung und macht glücklich. Die Herausforderung eines solchen Fluges erlebt man besonders intensiv, weil die Welt – unterbewusst – zeitweilig überwiegend aus Warnsignalen besteht, und man tief im Inneren weiß, was theoretisch alles passieren kann. Die wachsame Anspannung löst sich beim Anblick des Zielflugplatzes in ein unbeschreibliches Glücksgefühl auf – so auch bei uns.

Beim Abstieg durch eine dünne Wolkenschicht setzt die Cessna kurzzeitig etwas Eis an, was aber problemlos bleibt. Nur wenig später ist ENSB in Sicht: Die Farben des Lichts sind hier intensiv, und die Landschaft ist von wilder Schönheit. Am Boden haben wir plus zwei Grad Celsius, der Winter endet hier erst Anfang Juni.

Entspannt und neugierig erkunden wir Longyearbyen, das Verwaltungszentrum von Spitzbergen. Wir kaufen Souvenirs, unter anderem den obligatorischen Beweisaufkleber für den Flieger. Im Svalbard-Museum erfährt man alles Wissenswerte über die Inselgruppe. Etwas unheimlich, aber sehr stimmungsvoll ist eine Schiffstour, die wir nach „Pyramiden“ unternehmen, einer verlassenen russischen Bergbausiedlung nördlich von Longyearbyen. Hier steht das nördlichste Lenin-Denkmal. Für lokale Sightseeing-Flüge dagegen erhält man auf Spitzbergen kaum eine Genehmigung vom Gouverneur.

Auch am Boden ist es nicht ganz ungefährlich: Auf Spitzbergen leben etwa 3000 Eisbären – deutlich mehr als Menschen. Ein Eisbär braucht etwa 70 Robben pro Jahr, die Bären folgen deshalb den Robben im Sommer nach Norden. Die Verwandten von Knut sind sehr neugierig und haben immer Appetit, das macht sie auch für Menschen gefährlich. Es kommt immer wieder zu tödlichen Attacken. Die Tiere stehen allerdings unter strengem Naturschutz und dürfen nur in Notwehrsituationen getötet werden – jedes Ereignis dieser Art wird behördlich streng untersucht. Bewegt man sich zu Fuß außerhalb des Stadtgebiets von Longyearbyen, ist man verpflichtet, eine großkalibrige Schusswaffe mitzuführen.

Klarer Norden: Die Sonne bringt Billefjord auf Spitzbergen zum Leuchten. Das rasch wechselnde Wetter macht einen Flug hierher sehr anspruchsvoll (Foto: Günther Schönweiß)

Doch in diese Verlegenheit kommen wir erst gar nicht: Torgeir Mørk vom Wetterbüro auf dem Flugplatz teilt uns mit, dass das Wetter für den Rückflug passen könnte. Wir brechen auf, und erst kurz vor dem Festland erleben wir, wie schnell hier oben ein Wetterumschwung kommen kann. Wir wussten, dass der Wind vor der Küste auffrischen würde, doch mit Geschwindigkeiten von 30 bis 35 Knoten und über 50 in Böen erwischt es uns unerwartet heftig. Regen setzt ein, die Wolkenuntergrenzen sinken, und wir müssen über der zerklüfteten Fjordlandschaft immer tiefer runter. Hier erfahre ich das erste Mal am eigenen Leib, was orografische Turbulenzen sind. Zeitweilig glauben wir, dass uns der Flieger einfach aus der Hand gerissen wird. Doch es geht alles gut.

Unser weiterer Rückflug verläuft über Tromsø (ENTC) und Svolvaer (ENSH) zunächst nach Bodø (ENBO). Wetterbedingt überqueren wir dann die Skanden nach Gävle (ESSK), anschließend führt die Route über Visby (ESSV), Bornholm (EKRN) und Heringsdorf (EDAH) zurück nach Bad Neustadt (EDFD). Unsere Bilanz: Ein toller Flug – unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Was uns von unserer Tour bleibt, sind unauslöschbare Bilder im Kopf, inspirierende Begegnungen mit freundlichen Menschen sowie rund 46 Stunden und 4700 Nautische Meilen mehr Erfahrung.

Text und Fotos: Günther Schönweiß, fliegermagazin, 6/2012

Schlagwörter
  • Festland
  • ENBO
  • Bodø
  • ENSH
  • Svolvaer
  • ENTC
  • Tromsø
  • Svalbard
  • Barentsee
  • Gävle
  • ENAT
  • Alta
  • ESPA
  • Luleå
  • ENSU
  • Umeå
  • ESNN
  • Sundsvall
  • ESSV
  • Privatflugzeug
  • EDAH
  • Heringsdorf
  • EKRN
  • Bornholm
  • ESSK
  • Schwimmwesten
  • Cessna 172
  • Norden
  • Gotland
  • einmotorisch
  • Deutschland
  • Schönhagen
  • Dänemark
  • fliegermagazin
  • Norwegen
  • Schweden
  • Kleinflugzeug
  • Reise
  • Arktis
  • Einmot
  • Spitzbergen
  • Visby
  • EDFD
  • Bad Neustadt/Saale
  • ENSB
  • Personal Locator Beacon
  • Überlebensanzüge
  • Rettungsfloß
  • Notwasserung
  • Kolbenmotor
  • Longyearbyen