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Herbstflug in Neuengland: Cessna 172 in den USA

Es muss ja nicht immer Florida sein: Neuengland, ganz im Nordosten der USA, ist zwar nicht so wetterfest, bietet dafür aber einen farbenfroh leuchtenden Herbst, wie man ihn so 
in keinem anderen Teil der Welt findet

Von Redaktion

Meine Heimat ist Kalifornien“, verrät David und zieht den Ölstab der nagelneuen Cessna 172 aus dem Motorraum hervor. „Ich hab auch mal in Colorado gelebt.“ Der Mittvierziger ist Fluglehrer und wohnt erst seit ein paar Jahren mit seiner Familie in Neuengland. Als Inhaber der Flugschule Ocean Point Aviation residiert er am Wiscasset Airport in Maine, hoch im Nordosten der Staaten. Eine unkontrollierte 1000-Meter-Piste, gepflegt, gebührenfrei – und zur Nebensaison verlassen wie die Wüste von Mojave. Was aber führte den sonnenverwöhnten Westküstler an den Atlantik, wo auch im Sommer Nordsee-Feeling aufkommt? David überlegt nicht lange. „Lebensqualität“, sagt er und zupft beim Rundgang an den Landeklappen seines Flugzeugs. „Es ist einfach super hier.“

Viel Platz für Groß und Klein: Wiscasset Aiport mit seiner 1000-Meter- Asphaltpiste aus dem Cockpit einer Cessna 172 (Fotos: Rolf Stünkel)

In Maine herrscht Wohlstand, man pflegt noble Hobbys und genießt das Leben. Die Landschaft ist eine pittoreske Abwechslung von schmalen Küsten, sanften Hügeln, viel Wald und grünen Weiden, mit alten Farmen, kleinen Dörfern und wenigen größeren Städten. Deutsche Piloten reisen zum Stundensammeln gern nach Florida; Maine, ein Staat von gerade mal gut 1,2 Millionen Einwohnern, ist vielen so unbekannt wie Wyoming oder Nebraska. „Ein Fehler“, findet Dave. „Hier ist Fliegen nicht billiger, aber abwechslungsreicher als im Süden.“

Dave empfindet das Fliegen in Neuengland abwechslungsreicher als in Florida

Der Pilot ist äußerst zufrieden mit „seinem“ blitzsauberen Heimatflugplatz. Vom Vorfeld könnte man Lobster essen, die Hallen sehen aus wie gerade erst fertiggebaut. Ein Ausflug zum Wiscasset Airport ist also nicht für die Katz, auch wenn sein Name (wie der des benachbarten 3600-Seelen-Orts) nach Tierfutter klingt: Es bedeutet in der Sprache der Ureinwohner – Abenaki – so viel wie „es kommt vom Hafen, aber du siehst nicht woher.“

Dave macht auf der UNICOM-Frequenz einen kurzen Funkspruch ins Leere, rollt zur Piste 25 und schiebt das Gas rein. Der Flieger hat eine gute Viertelmillion Dollar gekostet, dafür ist er mit Garmin-1000-Avionik, Bose-Headsets und Leder komfortabel ausstattet. Wiscasset Airfield liegt an der Bahnstrecke zwischen Bath und Newcastle; Namen, die an Siedler aus der alten Welt erinnern. Der Luftraum bietet keine bösen Überraschungen. Ein paar Meilen westlich liegt zwar Brunswick Naval Air Station, doch der kleine Marinefliegerhorst dämmert seiner baldigen Schließung entgegen. Auch der weiter entfernte Flughafen von Portland hat nicht viel Verkehr.

Ringsum nur ein paar kleinere Plätze und Privatpisten für Freizeitpiloten: Da kann man unbeschwert die Aussicht genießen und das Mikrofon am Haken lassen. Der legendäre Indian Summer, der übrigens nur bei uns so heißt und in den USA „fall foliage“ genannte wird, ist Hauptwerbeträger der Region und besonders aus der Luft ein Hingucker. Er bezeichnet die orangerote herbstliche Färbung der Bäume; besonders auffällig: der Zuckerahorn, dessen Blätter werden rot, orange und goldgelb. Eine Namenstheorie behauptet, den hiesigen Indianern sei ebenso wenig zu trauen gewesen wie der von bunten Blättern vorgetäuschten Verlängerung des Sommers. Richtig oder falsch, es macht Spaß, stundenlang durch den Farbenrausch zu fahren oder ihn von oben zu bewundern.

Unsere Cessna fliegt über scheinbar endlose Wälder, die sich im Indian Summer verfärbt haben

Maine ist der Bundesstaat mit dem höchsten Waldanteil der USA; hier gibt es sechzehnmal so viele Baumarten (rund 800) wie in europäischen Wäldern. Wer zum Indian Summer immer gut informiert sein möchte, braucht nur ins Internet zu gehen (www.foliagenetwork.net) oder einen der lokalen Radiosender einzuschalten, hier wird regelmäßig die beste Gegend zum „Blätter-Watching“ durchgegeben.

Unsere Cessna fliegt über scheinbar endlose Wälder. Man kann von oben genau erkennen, wo sich die Farbenpracht schon voll entfaltet hat und welche Ecke sich bald verwandeln könnte. Die Landschaft leuchtet im Sonnenlicht zu uns herauf. Ein magisches Bild, das da unter uns vorbeirauscht.

Neue Heimat: Der Kalifornier David Stapp, Inhaber von Ocean Point Aviation
(Fotos: Rolf Stünkel)

David dreht nach Südosten ab und nimmt Kurs aufs Meer. Five Island, Boothbay Harbour, Chamberlain – wir erblicken atemberaubend schöne Felsen-Inselchen, dicht bewaldete Küstenabschnitte und zahllose Bootsstege mit Anwesen, die strahlend weiß in der Sonne leuchten. Wo verdienen die Bewohner ihre Dollars? „Nicht hier“, lacht der Pilot. „Sie kommen zum Wochenende oder haben sich hier zur Ruhe gesetzt.“

Maine ist auch aus Europa über den JFK-Airport in New York City gut zu erreichen

Ein gutes Land, dieses Maine – nur zwei Autostunden hinter Boston und auch von Europa aus via JFK-Airport gut zu erreichen. Der Bundesstaat gehört wie Connecticut, New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island und Vermont zu New England. Viele der Gebiete wechselten einst zwischen französischer und englischer Herrschaft. Sie sollen ihre Sammelbezeichnung dem Entdecker und Abenteurer John Smith verdanken, der die Gegend schon 1616 als „fischreich und dicht bewaldet“ beschrieb. Das lockte Siedler an: Franzosen, dann Engländer, fromme Pilgerväter und Puritaner. Letzere gründeten im 17. Jahrhundert Städte wie Plymouth und Boston, schufen Häfen und Verkehrswege und gingen dabei rücksichtslos gegen Indianer vor.

Ein dunkles Kapitel, dem man sich heute stellt; schließlich möchte man in Neuengland gern stolz darauf sein, an der Wiege der Unabhängigkeit zu leben. Hier schlug 1776 die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten, das Yankee-Land gibt sich traditionsbewusst und doch liberal, schwört auf Geschichte und Bildung. Elite-Unis wie Yale, Harvard und MIT sind in aller Welt angesehen. Das Kultur- und Geschichtspaket ist für Touristen verdaulich. Im dünn besiedelten Maine stehen nicht an jeder Ecke Museen und Gedenktafeln, dafür umso mehr Hinweise auf Wälder, Küsten und das, was viele Touristen wirklich wollen: Lobster. Die knackigen Schalentiere sind die Zweitwährung des schönen Landes und werden überall leuchtend rot und frisch angepriesen. Hier kann jeder bis zum Eiweißschock futtern; am besten schmecken Lobster angeblich vor Ort, man kriegt sie aber auch fertig gekocht im Supermarkt.

Lobster satt: das erfreut das Herz eines jeden Piloten

Wer die leckeren Kneifzangen nicht mag, kann auf Muschelsuppe oder Fisch umsteigen, natürlich auch Steak und Salat; niemand muss hier Fastfood essen. Der europäische Magen darf also entspannen, nur mit dem Brot hapert es nach wie vor. Meist bleibt nur wabbelig-weißer Toast – was soll’s: Auf irgendwas muss man sich ja auch zu Hause freuen dürfen. David steuert über Wälder und Seen zurück zum Flugplatz, man sieht die Piste schon von weitem mitten im Grünen liegen. Kaum zu glauben, dass daneben das einzige Atomkraftwerk von Maine stand; es wurde vor Jahren abgebaut. Gut so, denke ich beim Anblick der Landschaft.

Betagter Wegweiser: Das Portland Head Lighthouse am Cape Elisabeth in Maine ist seit 1791 in Betrieb
(Fotos: Rolf Stünkel)

Aber wer kommt schon zum Fliegen hierher in diese abgelegen Idylle? David räumt ein, dass die Wirtschaft auch im betuchten Maine eine kleine Atempause eingelegt habe. „Von ein paar Flugschülern kann man nicht leben,“ sagt er. Also werden fleißig Rundflüge mit Touristen gemacht, und einmal im Jahr lässt’s der Familienbetrieb richtig krachen: mit einem großen Fly-in-Familienfest, dann gibt’s reichlich Pfannkuchen-Frühstück und Grill-Lunch. Außerdem eine Kinder-Rallye, kostenlose Rundflüge für Jugendliche, die beliebte Lastwagen- und Oldtimer-Show, Motorschirm-Fliegen und vieles mehr.

„Dein Leben lang hat man dir gesagt: Bleib mit beiden Füßen auf dem Boden!“ – so die Flugschul-Broschüre. „Ist es nicht Zeit für etwas Unkonventionelles? Etwas, wovon du immer geträumt hast? Lern fliegen! Keine Ausreden mehr. Du hast es jahrelang hinausgeschoben – jetzt ist die Zeit gekommen!“ Amis lieben es eben, ab und zu mal die Emotions-Platte aufzulegen, das hebt den Umsatz. David und seine Frau, die das Flugschul-Marketing macht, wissen, was gegen zu viel Friedhofsstimmung am Airport hilft. Sie sind Selfmade-Unternehmer, können Begeisterung wecken und Fußgänger zu Fliegern machen.

Wiscasset ist per NDB-Funkfeuer, Karte und GPS zwar leicht zu finden, aber sicher ist sicher: Damit potenzielle Besucher kurz vorm Ziel nicht wieder umdrehen, hat man aufs Vorfeld in großen weißen Buchstaben „Wiscasset“ gepinselt. David, der Neuengländer aus Kalifornien, würde wohl mit verbundenen Augen zurückfinden. Ein letzter Funkspruch ins Nichts, und schon sind wir wieder gelandet. Selbst der Windsack hat sich inzwischen schlafen gelegt. Wir waren die letzten Gäste für heute. See you, Wiscasset! Mehr Airport braucht man eigentlich nicht.

Fischen, wandern, entspannen: Urlaubs- domizil am Little Sebago Lake (Fotos: Rolf Stünkel)

Neuengland: Sehenswertes im Nordosten der USA

■ die hübschen Küstenorte York, Ogunquit, Wells Beach und Bar Harbor mit Sandstränden, Fisch- und Lobsterlokalen
■ der 1929 gegründete Acadia-Nationalpark rund um die Insel Mount Desert mit dem Leuchtturm Bass Harbor Head
■ die frühere Hauptstadt Portland, mit interessantem Hafen, schöner Architektur und einem bedeutenden Museum für moderne Kunst
■ die historische Eisenbahn „Maine Eastern Railroad“ in Rockland
■ Urlaub am Badesee mit eigenem Bootssteg, zum Beispiel am Sebago Lake oder am Little Sebago Lake
■ Outlet-Shopping in Freeport bei Portland
■ Trips ins nahe Kanada, nach Vermont oder New Hampshire

Text und Fotos: Rolf Stünkel, fliegermagazin, 10/2010

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