Vagabund R von AV Leichtflugzeuge
Ein Großvater, der flog, Flugzeuge, die in den vierziger Jahren auf dem Gut der Familie gefertigt wurden, übriggebliebenes Material aus jener Zeit – ohne diese Vergangenheit wäre Wolfgang Binder wohl nie Pilot geworden. Und er hätte sich nie einen Doppeldecker aus Holz gebaut
Es ist, als öffne sich ein Schacht in die Vergangenheit: Wolfgang Binder schiebt das Tor auf, im Halbdunkel sind Fahrzeuge zu erkennen … und etwas Größeres, ebenfalls staubgeschützt unter Tüchern – ein Flugzeug! „Der Großvater ist damit bis 1976, ’77 geflogen“, sagt Wolfgang, seitdem stehe die Motorkrähe hier in der Scheune. Nachdem der Opa 1988 gestorben sei, habe sich niemand mehr um das Flugzeug gekümmert. Wir nehmen die Tücher vom Rumpf des Motorseglers und öffnen die Kanzel. In der Tasche an der rechten Cockpitwand finden sich Zettel mit handschriftlichen Notizen: „Rottweil–Hornberg, 54° / Hornberg–Rottweil, 234° (112 km)“, oder „Ulm–Friedrichshafen“, ebenfalls mit Kurs, Gegenkurs, und Streckenlänge. „Der Großvater hat nichts weggeschmissen“, bemerkt Wolfgang. Auch die Karte, die ihm zur Navigation diente, steckt noch in der Tasche: eine 200 000er Straßenkarte – von 1956.
Vom Landwirt zum Flugzeugbauer bei dem Sonderkommando 9
Max Schmid, der Großvater, war Landwirt hier auf Gut Tierstein, nördlich von Rottweil. Er war aber auch Flugzeugschreiner und -mechaniker. Mit der Motorkrähe, die er Anfang der sechziger Jahre halbfertig übernommen und zu Ende gebaut hatte, startete und landete er neben dem Bauernhof. Schon Ende der dreißiger Jahre war er auf den großen Wiesen, die heute Felder sind, mit einem selbstgebauten DFS Maikäfer geflogen. Auch auf dem nahe gelegenen Segelflugplatz Klippeneck tauchte er damit auf. Dort hatte ihn die Schwester von Walter und Reimar Horten gesehen, worauf sie ihren Brüdern erzählte, dass es da einen Flugzeug-Bauer in der Nähe gäbe … Und so kam es, dass Max Schmid 1942 ins Sonderkommando 9 eingezogen wurde, um Flugzeuge zu bauen. Auf Gut Tierstein entstanden die Nurflügelsegler Horten II, III und IV, hauptsächlich die IV b mit Laminarprofil. Regelmäßig landeten Maschinen neben dem Gutshof, irgend jemand stieg aus, kontrollierte den Baustand oder brachte Teile und neue Konstruktionszeichnungen, wenn etwas weiterentwickelt worden war. Später, nach dem Krieg, wurden in der gleichen Werkstatt noch Jahre lang Segelflugzeuge repariert.
Wolfgang Binder zieht eine großformatige Mappe hervor, öffnet die sorgsam verschnürten Kartondeckel … unfassbar: hunderte von Schwarzweiß-Fliegerfotos aus der Zeit seines Großvaters, die meisten zeigen Horten-Typen. Doch darunter liegt der eigentliche Schatz: Original-Blaupausen der Horten IV b, zum Teil mit Bemerkungen versehen, die Horten-Konstrukteur Willy Radinger draufgekritzelt hat.
Als Kind bekam Wolfgang jene Zeit noch im Nachhall mit. Sein Großvater wurde häufig von früheren Luftwaffe-Größen besucht, beim Sonntagnachmittag-Kaffee erzählten die Herren aus alten Zeiten. Auch einer der Horten-Brüder sei dabei gewesen – welcher, daran erinnert sich der heute 43-Jährige nicht mehr. Viel wichtiger waren ihm die Flieger-Geschichten, denen er damals gebannt lauschte und die er mit seiner kindlichen Fantasie ausschmückte. „Du malst dir das in Gedanken aus, willst selbst Pilot sein, einen Flieger haben – und jetzt hab ich’s. Zwar als UL, aber ich hab’s.“
Von Anfang an wusste Wolfgang, wie das Flugzeug sein sollte
Dass es etwas Nostalgisches sein musste, stand bei dieser familiären Prägung von vornherein fest. Selbstbau war auch klar; mit Flugmodellen hatte Wolfgang reichlich Erfahrung, außerdem ließe sich Geld sparen, vor allem aber die Idee eines ganz auf die eigenen Vorstellungen zugeschnittenen Apparats verwirklichen. Eine Eigenkonstruktion kam nicht in Frage: „Ich wollte etwas, das funktioniert“, sagt der Familienvater, „sonst regt’s dich bloß auf, und du wirst nie fertig“. Also ein bewährter Flieger mit Musterzulassung, für den Pläne und Bauteile lieferbar sind.
Als Material sei Holz naheliegend gewesen: „Ein alter Flugzeugbauer hat mir mal gesagt: „Holz spricht, bevor’s bricht“. Der Werkstoff konnte günstig über Bekannte beschafft werden, die Schreiner oder Zimmermann waren, und außerdem: Auf Gut Tierstein gab es noch massenhaft Holz – Flugzeugsperrholz, mit Stempel vom Germanischen Lloyd, datiert auf die Jahre 1942 bis ’45. „Wenn sie heute drüben in Winzeln-Schramberg an einer Robin etwas reparieren müssen, verrät Wolfgang schmunzelnd, „fragen sie manchmal nach Sperrholz; dann geb ich ihnen was.“
Holzbau, ein traditionelles Design, am besten ein Doppeldecker – da kam nur der Vagabund in Frage. Auch den populären Kiebitz hatte sich Wolfgang angeschaut, doch dessen Rumpf besteht aus vernieteten Aluminiumrohren, und das gefiel ihm nicht.
Die Entscheidung fiel auf den Vagabund
Der Vagabund ist schon exotisch genug – nur ein Dutzend wurden bis heute fertiggestellt. Einzigartig sind an der D–MVWB aber einige Teile, auf die der Erbauer zurückgreifen konnte. Aus der Zeit, als in seiner UL-Werkstatt Flugzeuge entstanden, gab es noch jede Menge Umlenkrollen, Kugelgelenke, Gabelköpfe, Handlochdeckel, Bedienhebelknäufe, Steuerstangen samt Führungen und vieles mehr. Vom Opa stand sogar noch ein Kanister mit Holzimprägnierung rum. Immer wieder hat Wolfgang seinen Musterbetreuer Birk Meier gefragt: „Kann ich das einbauen?“ Und der Vagabund-Konstrukteur antwortete stets: „Das sind Luftfahrtteile – klar!“
Vieles hat der gelernte Industriemechaniker aber auch selbst hergestellt. Er kann schweißen, fräsen und drehen, und bei einigen Teilen kam ihm zugute, dass er in einem Unternehmen arbeitet, das Sondermaschinen fertigt – ein Glücksfall, wenn sich solche Voraussetzungen als Amateurbauer auch mal privat nutzen lassen. Vom Vagabund-Hersteller kaufte der Schwabe die verleimten Flügelholme für die Tragflächen, das rohbaufertige Rumpfgerüst, die GfK-Cowling, sämtliche Beschlagteile für die Zelle und auch die ovalen Baldachin-Rohre aus hochfestem Aluminium, die ursprünglich als Brückengeländer fabriziert wurden. Andere Teile stammen von Luftsport-Zulieferern, die profilierten Flügelstiele etwa sind Drachentrapezrohre der Firma Finsterwalder, die Stahlseile und deren Anlenkungen gibt’s im Yachtbedarf.
Bei eBay erstand Wolfgang einen zertifizierten Rotax 912, der 1300 Betriebsstunden in einem Falken gelaufen war – für 5000 D-Mark. Später, inzwischen gab es die alte Währung nicht mehr, kamen auf dem gleiche Weg ein Edelstahlauspuff mit Wärmetauscher und ein Wasserkühler hinzu, beides Original-Rotax-Teile, das eine kostete 250 Euro, das andere 100. Weller Flugzeugbau lieferte die Fahrwerksstreben mit gekapselten Kunststoff-Federelementen, auch das Material für den Motorträger besorgte sich der Vagabund-Bauer von Roman Weller; das Stahlrohrgestell hat er dann nach Vorlagen selbst geschweißt.
Der Vagabund besteht aus originalen, sowie günstig zusammengekauften Teilen.
Gekonnt ist die Mischung aus hochwertigen Lösungen überall dort, wo es um Sicherheit geht und die UL-Bauvorschriften wenig Spielraum lassen, und kreativer Schrauberkunst, wo alles andere zu teuer oder zu aufwändig wäre. So sind die Gummibälge am Fahrwerk von VW-Bremskraftverstärkern, die Blattfedern des Spornradfahrwerks von einem Trabi, die hydraulischen Scheibenbremsen von Magura, die Felgen und Reifen aus dem Anhängerbau, das Trimmservo fürs Höhenruder aus dem Modellbau, der Schieberegler dazu aus einem Autoradio, den Kontrolldeckel in der Motorhaube halten Magnete geschlossen, die Wolfgangs Arbeitgeber produziert, und die Gitter vor den Lufteinlässen der Cowling gehörten mal zum Dunstabzug der ausrangierten Küche seiner Mutter. Okay, dafür ist das Drainventil des Tanks von einer Piper PA-28.
Wer über die Bremsen und Reifen lacht, lernt schwäbische Gewissenhaftigkeit kennen, gepaart mit technischem Pragmatismus: „Magura hat mir gesagt, sie hätten die Bremsen bei Verzögerungen mit bis zu 450 Kilo Masse getestet, exakt mein Höchstabfluggewicht. Am Steuerknüppel hab ich zwei Bremsgriffe montiert, Fußspitzenpedale waren mir zu aufwändig.“ Und zu den Reifen erklärt der Vagabund-Pilot: „Die sind bis 150 km/h getestet – aber so schnell land’ ich ja nicht, da hätt’ ich was falsch gemacht.“ Hightech und Handwerk, ein letztes Beispiel: Der Füllstand wird über einen selbst gelöteten Schwimmer mit Dorn angezeigt, der wie bei einer Piper J-3 vor dem Cockpit aus dem Rumpfrücken ragt; es gibt aber auch einen modernen Durchflussmesser von TL electronic.
Trotz Vollzeitjob kam die Familie nie zu kurz
Rund 3800 Baustunden hat Wolfgang in seinen Doppeldecker gesteckt, nach dreieinhalb Jahren war er fertig, trotz Vollzeitjob. Und die Familie? „Die kam nie zu kurz. Außerdem: Was machst du abends? Vor den Fernseher hocken und dich mit Chips dick fressen? Das ist nicht mein Ding. Und Rad fahren“, ergänzt er grinsend, „kann ich später auch noch.“
Es ist kein Edelschrauber-Stück, das sich der UL- und PPL-Pilot da geschaffen hat, keine Hangar-Queen, so kostbar und höllisch empfindlich, dass man sie kaum anfassen möchte. Der Vagabund mit der Seriennummer 9 ist eine Maschine zum Fliegen. Stationiert hat sie der „Gutsherr“ auf dem UL-Drachenschleppgelände Bösingen nordwestlich von Rottweil. Hier startet er am liebsten morgens und abends zu Flügen über der Schwäbischen Alb im Osten und dem Schwarzwald im Westen.
Der Vagabund ist kein Reiseflugzeug
Die Geschwindigkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle: „Schnell reisen von A nach B – dafür eignet sich der Vagabund nicht. Bei Vollgas sind zwar 140 km/h machbar, aber 90 bis 100 fühlen sich am besten an.“ Dann dreht der 80-PS-Motor mit 4300 Touren, 1200 unter Nennleistung, was 1900 Umdrehungen pro Minute am großen Holzpropeller ergibt. Bei einem Verbrauch von zehn bis zwölf Litern pro Stunde wären theoretisch 550 Kilometer Reichweite drin, bis der selbst gestaltete 70-Liter-Tank (serienmäßig sind 45 Liter) noch Sprit für eine halbe Stunde Reserve hergäbe. Doch niemand will sechs Stunden am Stück in einem derartigen Flugzeug sitzen. Zu zweit sind selbst kürzere Flüge mit einem erwachsenen Passagier kaum legal möglich: Leer wiegt die D–MVWB 300 Kilogramm, bei 450 Kilo MTOM bleiben lediglich 150 Kilo für Kraftstoff und Insassen, ursprünglich war das Muster sogar nur bis 400 Kilo zugelassen.
Wolfgang Binder stört die geringe Zuladung nicht. Wenn er einen Mehrsitzer braucht, nimmt er sich von seinem Club in Winzeln eine Echo-Klasse-Maschine. Aber ein Flugerlebnis nach seinem Geschmack, mit dem Kopf im Fahrtwind und den Gedanken in einer Zeit, als Fliegen vor allem noch ein sinnliches Erlebnis war – das bietet ihm keine Maschine so perfekt wie sein selbst gebauter Doppeldecker. Er hat sogar versucht, den Vagabund auf Gut Tierstein zu betreiben, wie der Großvater einst den Maikäfer und die Motorkrähe. Doch das Regierungspräsidium Freiburg lehnte ab. Max Schmid hätte die Gelbfüßler verflucht – und sich über den Enkel dennoch gefreut.
Text & Fotos: Peter Wolter fliegermagazin 07/2012
- D-MVWB
- AV Leichtflugzeuge Hümmelsberg 49733 Haren
- 7,55 m
- 18,2 m²
- 6,80 m
- 2,60 m
- 0,60 m
- 300 kg
- 450 kg
- ca. 70 l (serienmäßig 45 l)
- Rotax 912/80 PS (wahlweise auch Jabiru 2200/80 PS)
- Woodcomp SR 30, 2-Blatt, fest, Holz, 1,80 m (für Rotax 912)
- 3,5 m/sec
- ca. 550 km (Standard 300 km) + 30 min. Reserve
- ab 48 900 Euro (Fertigflugzeug)
- 01520/397 71 68
Peter Wolter kam vom Drachenfliegen zur motorisierten Luftfahrt und von der Soziologie zum Journalismus. Er steuert ULs sowie E-Klasse-Maschinen und hat sein eigenes UL (eine Tulak) gebaut.
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