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Pilot Report: Muskelkraftflugzeug Airglow im Test

Die eigenen Muskeln als Motor – wie funktioniert das? Wie fühlt sich das an? Als Pilot von Airglow hat John Boyce erstaunliche Erfahrungen gemacht.

Von Redaktion
Pilot Report: Muskelkraftflugzeug Airglow im Test
Gigantisch! Airglow hat so viel Spannweite wie eine Boeing 737, wiegt aber nicht mal halb so viel wie deren Lackierung.

Da kauere ich also im Sturm hinter einer schützenden Wand während einer Fahrradtour auf den Äußeren Hebriden. Gemeinsam mit zwei Hochlandschafen. Es ist mein Einstieg in die esoterische Welt der Muskelkraftfliegerei, die bizarrste Sparte der Luftfahrt. Ich war kurz auf Facebook und hatte einen Post gelesen: Da wurde ein Radler gesucht, der Pilot ist. Oder umgekehrt. Es ging um die Teilnahme an einem Wettbewerb.

E-Mails, Telefonate, ein Haufen Informationen – die Sache hatte mich gepackt. Keine Woche später traf ich in Sywell ein, wo der Icarus Cup stattfand, ein Wettbewerb für Muskelkraft-Flugzeuge, der jedes Jahr vom British Human Powered Flying Club (BHPFG) veranstaltet wird.

Airglow HPA: Ein gigantisches Modellflugzeug

Der Wecker klingelt. Es ist noch dunkel. In der Dämmerung fällt mein Blick auf eine feingliedrige Maschine. Die ersten Sonnenstrahlen berühren ihre Kohlefaserrohre. Aus einem sargähnlichen Anhänger werden einzelne Segmente getragen. Mein erster Eindruck: ein Jahrzehnte altes Modellflugzeug, deutlich gebraucht und mit Anabolika aufgepumpt. Na ja, im Grunde handelt es sich auch um ein gigantisches Modellflugzeug, das mit Modellbaumaterialien und Modellbautechnik hergestellt wurde. Und alt ist es auch: 30 Jahre!

TeamworkTeamwork
Teamwork: Sorgsam werden die Einzelteile frühmorgens aus dem Autoanhänger getragen, hier das Cockpit mit dem vorderen Teil des Rumpfrohrs. Die Gebrauchsspuren verraten: Airglow ist 30 Jahre alt!

Airglow hat mehrfach Bruch gemacht und wurde immer wieder aufgebaut. Jedes Human Powered Aircraft (HPA) ist ein Unikat mit enormer Spannweite und homöopathisch niedriger Flächenbelastung, auf die Gnade von Böen und Windscherungen angewiesen – Narben zeugen von Airglows verlorenen Kämpfen. Das Ding hat die gleiche Spannweite wie eine Boeing 737, wiegt aber nicht mal halb so viel wie die Lackierung einer Boeing! Erbaut wurde es von den Brüdern John und Mark Macintyre sowie Nick Weston; der Erstflug fand am 20. Juli 1990 in Duxford statt.

Selbstbau: Fast alle Teile haben John und sein Team selbst konstruiert

Nahezu alle Teile haben John und sein Team selbst konstruiert und von Hand angefertigt. John ist immer noch bei jedem Icarus Cup dabei, er teilt sein Fachwissen gern mit anderen Experten. Er liebt es, fliegen zu sehen, was er erdacht und erbaut hat, aber er zuckt auch jedes Mal zusammen, wenn der Apparat hart aufsetzt.

FlächeFläche
Sieben Segmente: Die Fläche ist mehrfach geteilt. Zwei Flügelsätze stehen zur Verfügung – mit Supertips kommt Airglow auf 31,7 Meter Spannweite.

Je nach Anforderung fliegt Airglow mit dem kürzeren oder dem längeren der beiden Flügelsätze, die montiert werden können. Die Spannweite-vergrößernden Supertips sind für Dauerflugaufgaben mit Start ohne fremde Hilfe, die kürzere Version für Durchgänge, bei denen es auf Speed ankommt. Je nach Pilotengewicht werden auch unterschiedlich lange Flügelspannseile montiert. Von ihnen hängt die Durchbiegung und die V-Stellung ab. Supertips, lange Seile und schwerer Pilot – das ist die spektakulärste Kombination, dann weisen die hauchdünnen Flügelenden himmelwärts, als ob sie die Schwerkraft verhöhnen.

Flugvorbereitung: Zum Start muss man 400 Watt aufbringen

Die Flugvorbereitung beginnt mit einem Testlauf und Leistungscheck des Motors: Man schwingt sich aufs Fahrrad und strampelt die Piste entlang, damit Beine und Lunge richtig in Gang kommen. Trotzdem ist es nicht so einfach, in den frühen Morgenstunden schlagartig mit maximaler Kraft loszulegen. Und die braucht man für den Start. Bei meinem Körpergewicht, 75 Kilo, muss ich zirka 400 Watt aufbringen. Okay, nur ein paar Sekunden lang – der viermalige Tour-de-France-Sieger Chris Froome schafft das bei einem Anstieg über eine Stunde lang, und wenn er am Start alles gibt, kommt er auf mehr als 700 Watt. Aber wie weit kommt Chris
Froome als Pilot?

Gewicht – darum dreht sich alles beim Muskelkraftflug. Ich lege zum Fliegen sogar meine Uhr und meinen Gürtel ab, das sind 200 Gramm weniger, und noch mal hinterm Busch verschwinden kann zwei Watt ersparen.

Keine Instrumente: Der Pilot steuert nach Gefühl

Einsteigen ist bei Airglow ziemlich tricky. Das Flugzeug ist sehr fragil, ein Finger an einer falschen Stelle, und die Bespannung hat ein Loch. Dann ist Tesafilm gefragt. Am besten steigt man rückwärts ein und verbiegt sich so, dass der Kopf durch die kleine Lücke in der Mylarverkleidung passt, ohne diese zu beschädigen.

Dass hier alles anders ist, wird dem Piloten spätestens im Cockpit bewusst: Es gibt keinerlei Instrumente, der Pilot steuert rein nach Gefühl – was kaum aufkommt bei einer Fly-by-wire-Steuerung. Hört sich ausgefuchst an, in Wirklichkeit ist nichts anderes als eine Fernsteuerung für Modelle verbaut. Zwei Servos genügen. Wird der kleine Kreuzknüppel vor und zurück bewegt, schlägt das Höhenruder aus, auf links/rechts reagiert das Seitenruder – die Beine sind anderweitig gefordert. Das Cockpit ist klaustrophobisch eng, und wenn die Sonne scheint, wird es darin sehr heiß – man kommt sich vor wie beim Fitnesstraining in einem kleinen Gewächshaus.

Individuelle Anpassung: Jeder Pilot hat sein eigenes Set-up

Zur Flugvorbereitung gehört die individuelle Anpassung des Sitzes, da der Abstand zu den Pedalen stimmen muss. Anschließend wird die Neutralstellung des Höhenruders an die Schwerpunktlage angepasst – eine ziemlich sensible Angelegenheit, die das Schätzvermögen jedes Airglow-Neulings herausfordert. Auf einem Klebestreifen am Leitwerksträger notieren alle Piloten ihr persönliches Set-up.

Vom Cockpit aus checkt der Pilot dann die Funktion der Ruder, indem er jemanden bittet zu schauen, ob sie sinnrichtig ausschlagen. Ich lasse auch immer noch mal nachsehen, ob die Fahrradbremse sauber öffnet – jeder unnötige Widerstand ist verhasst, alle Energie soll in den Propeller fließen. Der wird über eine Welle, die unterm Sitz nach hinten führt, und eine lange dünne Kette angetrieben. Das obere der beiden Zahnräder sitzt auf einer Muffe, die um das Rumpfrohr rotiert und den 2,9 Meter großen Propeller aufnimmt. Die Blätter bestehen aus CfK, einzeln wiegen sie kaum mehr als 400 Gramm.

Beste Flugbedingungen: Aufgerüstet wird noch vor Sonnenaufgang

Ganz früh am Morgen herrschen die besten Flugbedingungen, weil dann die Luft am ruhigsten ist. Aufgerüstet wird noch vor Sonnenaufgang, oft steht man um 4.15 Uhr auf und geht während eines Wettbewerbs erst nach 23 Uhr schlafen, weil abends in der dann wieder ruhigen Luft weitere Durchgänge stattfinden. Dazwischen sind Reparaturen zu erledigen, und man versucht, Schlaf nachzuholen, so gut es geht.

AerolastischAerolastisch
Aeroelastisch: Solange kein Auftrieb entsteht, hängen die freitragenden Außenflügel herab.

Am Start schiebt ein Helfer zwischen Prop und Leitwerk am Rumpfrohr, während zwei weitere auf beiden Seiten die Unterverspannung halten, um die Tragfläche auszuleveln – der Pilot hat in dieser Phase nicht die geringste Kontrolle über die Querneigung. Außerdem braucht man noch zwei Radfahrer, die folgen und nach der Landung die Flügelenden greifen, damit sie nicht den Boden berühren.

Vor dem Start den Flug nochmal gedanklich durchspielen

„Propeller frei“ lautet das Signal, mit dem ich die Helfer wissen lasse, dass meine Füße nun in die Pedale einrasten. Es ist der Moment, in dem ich den Flug gedanklich durchgehe: Kraftausbruch beim Start, Horizontalflug mit „Reiseleistung“, Abdrift einschätzen, Konzentration auf das Starttor, das aus zwei Flaggen im Abstand von zehn Meter besteht. Verfehlt man es, gibt’s null Punkte. Wo ist das zweite Tor? Was macht der Wind? Die Nerven sind aufs Äußerste angespannt, es muss so viel zusammengebracht werden, eine abseitige Mischung aus fliegerischen Fähigkeiten, Entscheidungen im Bruchteil von Sekunden und wilder Athletik.

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Wenn ich soweit bin loszurollen, rufe ich den Helfern zu: „Gehen!“ Dann während des Beschleunigens: „Rennen!“ Und wenn ich nicht mehr schneller treten kann: „Alle weg! Alle weg!“ Der Rumpfmann schiebt jetzt noch mal, so fest er kann, und wirft sich anschließend zur Seite, damit ihn das Leitwerk nicht ummäht.

Bei Starts ohne Helfer ist nur eine Person am Flügelende erlaubt

Bei Starts ohne Helfer – ebenfalls eine Wettbewerbsaufgabe – ist lediglich eine Person am Flügelende erlaubt. Wenn niemand schiebt, kostet das Losbeschleunigen ungeheuer viel Kraft, weil der Propeller ewig durchdreht, bis sich das Flugzeug in Bewegung setzt.

ReiseflughöheReiseflughöhe
Auf Reiseflughöhe: Für den Aufstieg muss der Pilot voll in die Pedale treten, jetzt kann er den Krafteinsatz um 30 Prozent reduzieren.

Die Rotationsgeschwindigkeit kündigt sich an, wenn das Laufgeräusch des Plastikbugrads nur noch unterbrochen zu hören ist. Dann wird es Zeit, ganz leicht am Joystick zu ziehen, noch ein bisschen mehr in die Pedale zu treten … und wenn Stille einkehrt, weißt du: Du hast abgehoben! Jetzt musst du den Krafteinsatz beibehalten, bis die schwindelerregende Reiseflughöhe von drei Metern erreicht ist. Wenn es nur ums Höhehalten geht, kann man ungefähr 30 Prozent nachlassen, aber sobald irgendein Manöver ansteht, ist wieder die volles Leistung gefragt. Speziell der 500-Meter-Slalom-
kurs hat’s in sich: Man fliegt permanent Kurven, muss sich also
die ganze Zeit mit aller Kraft reinhängen. Punkte gibt es jedes Mal, wenn der Rumpf die Bahnachse komplett passiert hat.

Träge: Kurven haben einen Radius von 100 Metern

Die Ruderansprache als „träge“ zu bezeichnen wäre reine Schönfärberei, Kurven haben einen Radius von ungefähr hundert Metern. Um die Rollachse tut sich erst etwas, wenn das Folgemoment des Seitenruders mit großer Verzögerung einsetzt. Man legt den Knüppel zur Seite, tritt verstärkt in die Pedale – und wartet. Sobald die Kurvenbewegung beginnt, muss gegengesteuert werden, andernfalls überschießt der Apparat. Bei fast 30 Metern Spannweite bewegt sich der kurvenäußere Flügel wesentlich schneller als der kurveninnere, mit radikalen Folgen für Auftrieb und Querneigung. Diese Charakteristik verlangt große Voraussicht. Wer das Seitenruder zu spät betätigt, kommt nicht mehr aus der Kurve raus, der kurveninnere Flügel stallt und fällt zu Boden. Mir ist das vor zwei Jahren passiert – ein böser Ringelpietz war die Folge. Seitenwindböen können das Gleiche bewirken.

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Absturz in Zeitlupe: Strömungsabriss des Oldtimers Klemm L 25

Um die Querachse reagiert Airglow äußerst sensibel. Schon der Gedanke an eine Anstellwinkeländerung scheint zu bewirken, dass die Nase hochkommt oder abtaucht. Vne und Stallspeed liegen eng beieinander. 2018 hatte ich einen Strömungsabriss – falsche Trimmung, böige Luft –, als ich nach dem Abheben steil aufwärts gerichtet in der Luft stand. Knüppel nach vorn und Gas!, schoss es mir durch den Kopf. Das mit dem Knüppel war einfach, aber Gas geben … Ach so, ja, strampeln, als ob es um dein Leben geht! Geht es ja auch, denn zwischen dir und der Piste ist nur dünnes Segeltuch, auf dem du sitzt, und ein CfK-Holm, der in 10 000 winzige Spieße splittert, genau auf deinen Hintern ausgerichtet. Dicht überm Boden fing Airglow ab und flog weiter, ein paar Sekunden lang muss ich auf Tour-de-France-Niveau gewesen sein, mein Garmin-Fahrradcomputer hatte knapp 700 Watt aufgezeichnet. Die nächste Bö drückte mich dann aber in den erwähnten Ringelpietz.

Leistung langsam reduzieren: Nicht sofort aufhören zu strampeln!

Die Landung findet normalerweise dann statt, wenn Lunge und Beine entscheiden: Es reicht! Man kann aber nicht sofort aufhören zu strampeln – dann wäre die Sinkrate zu groß, und ohne Propellerstrahl würden die Leitwerksruder nicht mehr ansprechen. Es geht also darum, die Leistung langsam zu reduzieren und sie kurz vor dem Aufsetzen noch mal etwas zu erhöhen, damit es eine weiche Landung wird.

ZerbrechlichZerbrechlich
Zerbrechlich: Wie ein feingliedriges Insekt erscheint Airglow in der flachstehenden Sonne. Flüge sind nur bei ruhiger Luft möglich – frühmorgens und abends.

Trainieren lässt sich das Muskelkraftfliegen kaum, dazu ist die Logistik zu aufwändig und passendes Wetter zu selten. Ich habe Airglow noch nie außerhalb eines Wettbewerbs geflogen, anfangs bin ich so schwänzelnd und stampfend die Piste entlanggekrochen, wie das Loch-Ness-Monster Touristen verscheuchen würde. Das Problem ist einfach, eine konstant hohe Leistung produzieren und gleichzeitig steuern zu müssen. Stellt Euch vor, Ihr seid um einen harmonischen Start und Steigflug bemüht, und jemand spielt ständig mit dem Gas.

Meilenstein: Ein Kilometer weit zu kommen

Einen Kilometer weit zu kommen ist für jeden HPA-Piloten ein Meilenstein. Ich werde nie vergessen, wie das erste Mal die gelbe Ein-Kilometer-Flagge unter mir durchzog – und ich kurz darauf platt war. Mein erster Muskelkraftflug hatte nicht mal eine Minute gedauert, die Lernkurve führt in der Regel steil nach oben. Unabhängig von Dauer oder Weite ist es jedes Mal eine magische Erfahrung, ein HPA zu fliegen: dieses erhabene Gefühl, eine Maschine zu steuern, die nur durch die Kraft der eigenen Muskeln aufsteigt und sich fortbewegt. Jemand hat mal gesagt, es seien mehr Menschen im Weltraum gewesen als mit einem Muskelkraftflugzeug in der Luft.

Text: John Boyce, Fotos: Ed Hicks fliegermagazin 03/2020

Technische Daten
  • John und Mark McIntyre, Cambridge, England
  • 29 / 31,7 m
  • 26 m2 (bei 29 m Spannweite)
  • 8 m
  • 8 m
  • 41 kg
  • 120 kg
  • einer
  • null
  • Beine / ca. 300 W (0,39 PS)
  • 2-Blatt, fest, Cfk, 2,9 m
  • 38 ft/min (bei ca. 500 W bzw. 0,65 PS, 75-kg-Pilot)
  • nicht ermittelt
  • in Geld nicht zu bemessen
  • 18–19 kts
Schlagwörter
  • Airglow
  • Muskelkraft
  • Modellflugzeug
  • Holzflugzeuge
  • Human Powered Aircraft
  • HPA
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