Flugzeugreportage: Die Shuttleworth Collection in England
Hier stehen sich Oldtimer nicht die Reifen platt. In Old Warden lebt die „gute alte Zeit“ auf, wenn die Maschinen einer einzigartigen Sammlung historischer Flugzeuge an den Start gebracht werden
Noch zwei Minuten, Gentlemen.“ John Hurrell steht im Princess-Charlotte-Raum am Flugplatz Old Warden und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. „Noch eine Minute!“ Militärisch exakt zählt der Ex-Air-Force-Pilot die letzten zehn Sekunden laut herunter. Bei null beginnt er das Briefing mit einer knappen Begrüßung. Die 13 Piloten, die heute historische Maschinen vorfliegen, spitzen die Ohren. Es geht los mit dem Wetterbericht. Wind aus wechselnden Richtungen in unterschiedlichen Stärken ist vorhergesagt. Stirnrunzeln im Raum. Für die Profis, die hier sitzen, sind solche Verhältnisse eigentlich kein Problem – für manche der vorzufliegenden Oldtimer schon: Sie stammen aus Zeiten, als Seitenwind bei der Konstruktion noch gar nicht ins Kalkül gezogen wurde. Die Flugplätze waren weitläufig und rund, da konnte man einfach immer gegen den Wind starten und landen.
Bristol Boxkite oder Avro Triplane beispielsweise, gefertigt zu Beginn des letzten Jahrhunderts, sind Vertreter einer Flugzeuggeneration, bei der drahtverspannte Flügel in der Größe eines Tennisplatzes normal waren. Perfekte Angriffsflächen für den Wind, gepaart mit einem oft haarsträubenden Flugverhalten, lassen erahnen, warum bei solchen Maschinen Seitenwind der limitierende Faktor ist. Da wirkt die Blériot XI schon weniger anfällig, obwohl sie noch ein Jahr jünger ist als Boxkite und zwei Jahre jünger als Triplane: Der Eindecker wurde 1909 gebaut – das älteste noch fliegende Flugzeug der Welt. Beim Briefing hält man die Entscheidung offen, die empfindlichen Fluggeräte notfalls am Boden zu lassen. Die moderneren Maschinen ab Baujahr 1920 kommen heute aber auf jeden Fall zum Einsatz, und den dicken Brummern kann der Wind ohnehin weniger anhaben.
Monstermaschine: Die komplexe Technik des Bristol F.2B Fighter fordert bei der Bedienung den ganzen Mann
Hawker Hind und Westland Lysander werden fliegen, aber auch martialisches Gerät wie Gloster Gladiator oder Hawker Hurricane, beide aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Mit einem Alter von 74 Jahren gehört die in Kanada gebaute Hurricane Ib zu den jüngsten Flugzeugen der Shuttleworth Collection. Zu verdanken hat die Fliegerwelt diese einzigartige Sammlung an historischen Maschinen einem Mann, dessen Namen sie trägt: Richard Ormonde Shuttleworth. Der Engländer hatte schon früh ein ausgeprägtes Interesse an mechanischen Dingen aller Art, insbesondere Autos und Flugzeugen. Er stammte aus einer Industriellen-Dynastie, die den 60 Kilometer nördlich von London gelegenen Old Warden Park 1872 erwarb. Der finanzielle Hintergrund seiner Familie ermöglichte es dem jungen Shuttleworth, seinen Interessen freien Lauf zu lassen, und so sammelte er Autos und fuhr Rennen. Beim Grand Prix von Südafrika verunfallte er 1936 in einem Alfa Romeo schwer, worauf er sich der Fliegerei zuwandte – das sei sicherer.
Er kaufte alte Flugzeuge, restaurierte sie und baute eine Sammlung auf. Der heutige Engineering Workshop im Old Warden Park war seine Werkstatt. Nur 31 Jahre alt, kam er als Pilot der Royal Air Force mit einer Fairey Battle bei einem Übungsflug ums Leben. Im Gedenken an ihren Sohn beschloss Dorothy Shuttleworth, das Anwesen in eine Stiftung umzuwandeln. 1963 wurde die Sammlung, zu der auch Automobile und Motorräder gehören, für die Öffentlichkeit zugänglich. Neben dem Stiftungsfond sind es vor allem Spenden, denen zu verdanken ist, dass die Sammlung hin und wieder wächst. In einer eigenen Werkstatt restaurieren und warten Spezialisten die kostbaren Maschinen. Größtes Projekt ist derzeit die Grundüberholung einer doppelsitzigen Spitfire. Im Sommer wird ein Großteil der Sammlung zwei Mal pro Monat vorgeflogen. Für 22.50 Pfund ist man als Zuschauer dabei; wer 5.50 Pfund drauflegt, kann sich die gesamte Sammlung ansehen.
Inzwischen hat John Hurrell beim Briefing an Dodge Bailey übergeben, Cheftestpilot auf dem Luftwaffenstützpunkt in Cranfield. Bailey referiert über mögliche Außenlandungen und Landungen auf anderen Flugplätzen. Vom Nachbarplatz Duxford rät er dringen ab: Dort tobe gerade die Flying Legends Airshow, und es sei „very busy“. Dann geht es um Funkfrequenzen, Luftraumänderungen, und schließlich erinnert Bailey an ganz praktische Dinge – man denke doch bitte an die Vergaservorwärmung, wenn’s nötig sei. Die riesige Schar Freiwilliger und Angestellter der Stiftung, alle in weißen Overalls, holen über zwanzig Maschinen aus den sieben Hallen zum Betanken. Das Benzin wird auf historischen Treckern und Schleppern transportiert, der Rest ist Muskelkraft.
Die Modellflieger sind heute ebenfalls Teil der Show. Sie schieben oder tragen ihre zum Teil riesigen maßstabsgetreuen Nachbauten zur zugewiesenen Stelle. Von den Großen ist unter anderem der Bristol F.2B Fighter am Himmel zu sehen, eine Monstermaschine aus dem Ersten Weltkrieg, bei der man sich fragt, was den Konstrukteur geritten hat, die Fahrwerksbeine als eine Art negativen Baldachin einzusetzen, sodass die untere Fläche zwischen den Rädern und dem Rumpf hängt. Der gewaltige Doppeldecker, angetrieben von einem Maschinenwerk des Typs Rolls-Royce Falcon III, hat knapp zwölf Meter Spannweite und eine Tonne Leergewicht. Gekrönt wird das Erscheinungsbild durch ein furchteinflößendes Lewis-Maschinengewehr auf dem Rumpf. Der Schütze sitzt verkehrt rum hinterm Piloten und ragt mit seinem Körper weit aus dem Cockpit.
Der britische Wetterdienst hat eine Hitzewarnung herausgegeben: 27 Grad Celsius
Peter Holloway ist der Glückliche, der die F.2B heute vorfliegt. Gelassen lässt der 61-Jährige das Briefing an sich vorbeirauschen, seit sieben Jahren gehört der Privatier, ein Ex-Polizist, zu den Stiftungspiloten. Peter ist jemand, der Herausforderungen liebt, und der Bristol Fighter sein Lieblingsgerät am Platz. Angesichts des Baujahrs, 1918, ist dessen Technik sehr komplex, und sie fordert immer noch den ganzen Mann. Schon zum Anlassen des 14,2-Liter-Motors braucht man eine Bodenmannschaft: Zwei Mann halten das Flugzeug an den Flächen fest, zwei weitere verhaken ihre Arme ineinander, bevor einer von ihnen den Propeller anreißt und der andere den Anreißer sogleich vom Prop wegzieht. Unfassbar, mit welcher Präzision und Sanftmütigkeit der V-Zwölf zum Leben erwacht – kein Husten, kein Spucken, keine Fehlzündung oder Drehzahlschwankung bei Standgas.
Mit seiner Laufkultur stellt der Falcon III jede Nähmaschine in den Schatten. Allerdings muss der Pilot permanent die Temperatur im Kühlwassersystem in Schach halten; es gibt keinen Thermostaten, dafür aber Kühlerrollos, die im Stand, beim Rollen, Starten und überhaupt ständig geöffnet und geschlossen werden müssen, damit das Triebwerk in dem schmalen Temperaturbereich zwischen Überhitzen und Auskühlen bleibt. Bei der Landung gilt es dann, butterweich vorzugehen – harte Stöße auf die Zelle wären riskant: Das schwere Triebwerk, erklärt Holloway, sei an einer zu schwachen Aufhängung montiert, auch die recht fragile Rumpfkonstruktion könne durch dasGewicht des Falcon III schnell überfordert werden. Ein weiterer Star in der Flightline ist die Percival Mew Gull. Das Rennflugzeug präsentiert sich im Originalzustand von 1936, es gilt als Königin der britischen Racer in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg.
Schon zum Anlassen des Rolls-Royce Falcon III braucht man eine Bodenmannschaft
Eine Gruppe skandinavischer Flugzeugfans stürzt sich mit ihren Kameras auf den schnittigen weißen Tiefdecker – die G-AEXF ist legendär: 1938 hat Alex Henshaw die 6377-Meilen-Strecke vom Flugplatz Gravesend im Südosten Englands nach Kapstadt in 39 Stunden und 25 Minuten zurückgelegt, seine Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 209,44 miles per hour – Rekord! Auf dem Rückflug war Henshaw nur elf Minuten langsamer. Vor der Mew Gull montieren die Shuttleworth-Leute einen EoN Primary-Schulgleiter auf einen Pendelbock. Dann drehen sie das englische Pendant zum SG-38 in den Wind, damit Kinder darauf Platz nehmen und versuchen können, mit Knüppel und Pedalen den Oldie in der Waage zu halten. Jean Michel Munn, leitender Ingenieur der Stiftung, fliegt heute eine von Geoffrey de Havilland konstruierte und von der Royal Aircraft Factory gefertigte B.E.2, Baujahr 1918.
Der Typ war 1912 Großbritanniens erstes Militärflugzeug. Das authentische Pilotenoutfit dazu: ein originaler, schwerer Ledermantel für den Wintereinsatz und die entsprechende Fliegerkappe. Doch jetzt ist Sommer, und der britische Wetterdienst hat für heute eine Hitzewarnung herausgegeben: 27 Grad. Jean schwitzt schon wie der Teufel, noch bevor die Tageserwärmung ihren Höchstwert erreicht hat. Dann fliegt er ein perfektes Programm, zusammen mit Stuart Goldspink, der eine weitere, sogar noch zwei Jahre ältere B.E.2 steuert. Anschließend kommt Besuch aus Duxford. Die einzige flugfähige Lancaster in Europa, eskortiert von einer Spitfire und einer Hurricane, legen einen rasanten, tiefen und akustisch äußerst eindrucksvollen Überflug hin.
Inzwischen ist es nach 18 Uhr – das Publikum packt die Picknickkörbe ein, und Jean hat mittlerweile den Ledermantel abgelegt. Er sitzt auf einem 60 Jahre alten Ferguson-Traktor und zieht „seine“ B.E.2 zurück in den Hangar, begleitet von Helfern in weißen Overalls. In 14 Tagen beginnt die Show erneut, das nächste Flying Display steht schon auf dem Programm. Dann werden sich die Enthusiasten der Shuttleworth Collection wieder ganz ihrer Leidenschaft hingeben.
Text und Fotos: Cornelius Braun, fliegermagazin 4/2015
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