Flugzeug-Reportage: SIAI-Marchetti S.208
Der seltene Fünfsitzer aus Italien sollte in den sechziger Jahren Bonanza und Comanche Konkurrenz machen. In Deutschland fliegen nur ganz wenige Exemplare
Ein präzises Anforderungsprofil ist der erste Schritt zum Erfolg bei der Suche nach einem Gebrauchtflugzeug. Für Andreas Stirner aus Coburg war klar: Ein schnelles Reiseflugzeug mit großen Tanks sollte es sein. Die Reichweite der bislang genutzten Bonanza genügte nicht, als er 2011 auf die Suche ging. Dann hatte ein Freund mit Erfahrung im Flugzeughandel einen merkwürdigen Vorschlag: „Vielleicht finden wir eine Marchetti – die wäre perfekt für Dich.“ Eine was? Gut, den zweisitzigen Militärtrainer SF.260 des (längst vom Markt verschwundenen) italienischen Herstellers kennt man von Kunstflugvorführungen. Doch besagter Freund hatte etwas anderes im Sinn: eine S.208. Nun steht sie da auf dem Gras in Uetersen – und Andreas Stirner ist nach zwei Jahren Erfahrung mit der seltenen Italienerin begeistert: „Sie fliegt absolut gutmütig, ich kann mit vollen Tanks bis zu neun Stunden lang in der Luft bleiben, und sie macht 130 Knoten bei 53 Liter Verbrauch pro Stunde.“
Stirners D-ERAT steht fast unverändert so vor uns, wie sie 1972 ausgeliefert wurde: Die Lackierung hat hell- und dunkelblaue Zierstreifen, innen glänzen die Sitze in dunkelblauem Leder. Es sind fünf, der im Gepäckraum ist aber eher ein Notsitz. Er ist genau so beengt wie er aussieht und darf maximal 80 Kilo tragen. Gesteppte Wandverkleidungen und chamois-farbene Vorhänge verzieren den Innenraum. Und dann ist da dieses atemberaubende Schild am Panel: „Interior designed by Pininfarina.“ Diesen Namen kennt jeder Mann eines gewissen Alters – aus dem Autoquartett seiner Jugend. Das Designstudio ist seit über 50 Jahren für Legenden von Alfa Romeo bis Ferrari und Maserati verantwortlich. Im Uhrenladen-Cockpit finden sich italienische Instrumente mit Markennamen, die man noch nie gehört hat. Besonders sticht die Bedieneinheit für den Autopiloten hervor: OECM steht drauf.
Eine S.208: Nun steht sie da auf dem Gras in Uetersen
„Funktioniert perfekt“, beteuert Stirner. „Der kann sogar ILS-Gleitpfade hinunter fliegen.“ Das Gerät war bei einem Einbruchdiebstahl geklaut worden – nur mit viel Glück kam Stirners Avionikbetrieb an einen Ersatz, als dort eine italienische Twin auf einen modernen Autopiloten aufgerüstet wurde. Dass die Maschine zwar ordentlich marschiert, aber für ihre 260 PS keine Rennziege ist, hat einen offensichtlichen Grund: Die Kabine ist noch breiter und geräumiger als bei einer Bonanza. Große Fenster und dünne Streben verstärken den lichten Eindruck, der Blick nach draußen ist vorne und hinten ausgezeichnet. Der 52-Jährige zählt schnell seine Lieblingsziele auf: Beruflich geht es öfter nach Saarlouis, privat nach Heringsdorf oder Bornholm. Überall ruft die Maschine Staunen und Interesse von Piloten hervor, nur nicht in Lido di Venezia, dem Flugplatz am Strand von Venedig, gleich hinter den Alpen.
„In Italien ist die S.208 bekannt“, erklärt Stirner. Wo kommt dieses Flugzeug her, von dem in Deutschland vielleicht zwei oder drei Exemplare fliegen? Die Società Idrovolanti Alta Italia (SIAI) wurde 1915 gegründet und konzentrierte sich anfangs auf den Bau von Flugbooten. 1922 stieß dann Alessandro Marchetti als Chefingenieur zum Unternehmen, das eine feste Größe im italienischen Flugzeugbau wurde und im Zweiten Weltkrieg auch Militärmaschinen baute. Der berühmte Ingenieur Stelio Frati begann nach dem Krieg bei SIAI-Marchetti und entwarf den Erfolgstrainer SF.260. In den siebziger Jahren ging die Firma im Großkonzern Alenia Aermacchi auf. Der Ingenieur Alexander Brena entwarf Mitte der sechziger Jahre bei SIAI-Marchetti eine Familie von Ganzmetalltiefdeckern für die Allgemeine Luftfahrt, die möglichst viele gemeinsame Teile verwenden sollten, um Kosten zu sparen.
Geplant waren der Schulzweisitzer S.202, der Viersitzer S.205, der Fünfsitzer S.208, der Sechsitzer S.206 und eine Twin namens S.210. Nur drei Modelle schafften es zur Produktreife: die S.205 und die S.208 sowie der Zweisitzer S.202. Er wurde später von den Schweizer Flug- und Fahrzeugwerken Altenrhein zur AS-202 weiterentwickelt und dort recht erfolgreich verkauft. Alle größeren Varianten sollten auf der Zelle der S.205 beruhen, nur die Motorisierung war unterschiedlich geplant, ebenso die Ausstattung mit Fest- oder Einziehfahrwerk. Die S.205 gab es mit Motoren von Lycoming und Franklin, die S.208 bekam den größeren Lycoming O-540 und ein Einziehfahrwerk. Eine Pilotentür war als Option erhältlich, Stirners D-ERAT hat sie nicht. Die Flügel sind mit einem für damalige Zeiten recht fortschrittlichen Laminarprofil versehen. Bei der S.208 werden sie durch Tip Tanks an den Spitzen abgeschlossen.
Dennoch ist das Benzinsystem denkbar einfach: Ein deutlich mit Farben markierter Drehknopf in der Mittelkonsole erlaubt es, zwischen den zwei Flächentanks und dem Vorrat in den Spitzen umzuschalten. Ein weiterer Trick zur Einsparung der Teile-Vielfalt: Seiten- und Höhenleitwerk sind identische Bauteile, ebenso die Ruder daran. Auch das Querruder ist identisch mit den zwei Hälften der Landeklappe. Von S.205 und S.208 wurden bis zum Ende der Produktion 1977 etwa 700 Flugzeuge gebaut – wie viele es heute noch gibt, ist unbekannt. Dennoch sind die Maschinen in italienischen Clubs kein ungewöhnlicher Anblick. Eine erhebliche Zahl an S.208 ging an die Luftwaffe in Italien. Auch im Segelflugschlepp wurden die Maschinen öfter verwendet.
„Funktioniert perfekt“, beteuert Stirner. „Der kann sogar ILS-Gleitpfade hinunter fliegen.“
Schon damals lag allerdings der Haupt-Absatzmarkt für Kleinflugzeuge in den USA –und so kam ein weiterer großer Name ins Spiel: Der amerikanische Traditions-Hersteller Waco, bekannt für seine Doppeldecker, übernahm den Vertrieb der Marchettis in den Vereinigten Staaten. Doch Waco Sirius und Vela war nur mäßiger Erfolg beschieden, schließlich ging Waco in den Konkurs. Obwohl die Geschichte seines Flugzeugmusters wechselhaft ist und die Maschine heute als Exot gelten muss, macht sich Andreas Stirner nicht allzu viel Sorgen über die Teileversorgung: „Viele Systeme vom Motor bis zu den Bremsen sind Luftfahrtstandard von US-Produzenten.“
Außerdem hat der italienische Luftfahrtkonzern Aermacchi als Nachfolger von Marchetti auch die die Unterstützung für die Flugzeuge übernommen. Schließlich hat sich der Pilot aus Coburg sein eigenes Ersatzteillager gesichert: „Ich habe kürzlich günstig ein Wrack aufgekauft, das kann ich im Notfall ausschlachten.“ Andreas Stirner ist überzeugt, in der S.208 sein Traumflugzeug gefunden zu haben: „Die Ruderabstimmung ist sogar noch besser als in der Bonanza, die ich früher viel geflogen bin.“ Der nächste Schritt ist für den Freund langer Strecken offensichtlich: Er möchte ein Instrument Rating machen. Ein wenig muss die Avionik der Marchetti dazu renoviert werden. Jetzt bleibt nur die Frage, wie man das so macht, dass das moderne Zeug nicht die schöne Pininfarina-Optik stört.
Fotos: Christina Scheunemann, fliegermagazin 10/2013
- 11,24 m
- 16,07 qm
- 8,09 m
- 2,89 m
- 911 kg
- 1350 kg
- 208/113 l
- Lycoming O-540/ 260 PS
- Hartzell 2-Blatt, Constant Speed, Aluminium, 1,92 m
- ca. 53 l
- 294 m
- 420 m
- 300 m
- 505 m
Thomas Borchert begann 1983 in Uetersen mit dem Segelfliegen. Es folgte eine Motorsegler-Lizenz und schließlich die PPL in den USA, die dann in Deutschland umgeschrieben wurde. 2006 kam die Instrumentenflugberechtigung hinzu. Der 1962 geborene Diplom-Physiker kam Anfang 2009 vom stern zum fliegermagazin. Er fliegt derzeit vor allem Chartermaschinen vom Typ Cirrus SR22T, am liebsten auf längeren Reisen und gerne auch in den USA.
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